Headline: Bürgerräte

Bürgerräte gelten als zeitgemäße Ergänzung der repräsentativen Demokratie. In ihnen erarbeitet eine heterogen zusammengesetzte Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam Lösungen für politische Probleme. Das RIFS begleitet Bürgerratsprozesse in unterschiedlichen Rollen.

Was sind Bürgerräte?

Als „Bürgerrat“ werden Beteiligungsprozesse bezeichnet, innerhalb derer eine per Zufall heterogen zusammengesetzte Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern Empfehlungen zu einer bestimmten Fragestellung erarbeitet. Eingeladen werden die Teilnehmenden des Bürgerrates von politischen Gremien oder Entscheidungstragenden, wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und ihren Stadt- oder Gemeinderäten.

Aufgabe der Teilnehmenden ist es, Lösungen und Ideen für politische Probleme vorzuschlagen beziehungsweise Empfehlungen zum weiteren Umgang mit der Fragestellung zu erarbeiten. Die Bürgerinnen und Bürger werden innerhalb des Prozesses von professionellen Prozessbegleiterinnen und -begleitern unterstützt. Diese stellen durch deliberative und ko-kreative Methoden der Zusammenarbeit sicher, dass sich alle Teilnehmenden mit ihren Erfahrungen, Ideen und Gedanken in gleichem Maße einbringen können und als Gruppe zu möglichst gemeinsam getragenen Ergebnissen gelangen. Außerdem ist – je nach Fragestellung für den Bürgerrat – auch die Einbindung von Expertinnen und Experten, Betroffenen oder Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Positionen zur Thematik möglich, die vom Bürgerrat angehört werden können.

Als informelle Bürgerbeteiligungsprozesse sind Bürgerräte nicht einheitlich geregelt und daher je nach Kontext, Fragestellung oder auch politischer Ebene, auf der sie zum Einsatz kommen, sehr unterschiedlich ausgestaltet. So sind beispielsweise Bürgerräte auf nationaler Ebene sowohl mit Blick auf die Anzahl der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger als auch auf die Dauer der Zusammenarbeit und den Umfang des Arbeitsauftrages meist deutlich umfangreichere Prozesse als Bürgerräte auf der lokalen Ebene. Während lokale Bürgerräte häufig bereits mit rund 15 Teilnehmenden im Rahmen weniger Tage ihre Ergebnisse erarbeiten, sind bei landes- oder bundesweiten Prozessen oft mehr als 100 Personen eingebunden, die sich mitunter über Monate hinweg immer wieder zu Arbeitstreffen zusammenfinden. Bürgerräte finden üblicherweise in Präsenz statt. Während der Corona-Pandemie wurden Bürgerräte jedoch auch erfolgreich als Online-Veranstaltungen oder in Mischformen umgesetzt.

Bürgerräte sind sehr unterschiedlich an die Arbeit von Politik und Verwaltung angebunden: Das Spektrum reicht von einmaligen Veranstaltungen bis zu Varianten, bei denen neue Gremien fest institutionalisiert sind, die mit zufällig gelosten Bürgerinnen und Bürgern besetzt sind. Diese längerfristig institutionalisierten Bürgergremien können Themen und Fragen benennen, zu denen dann wiederum weitere Bürgerräte von Seiten der Politik einberufen werden können.

Bürgerräte in der Nachhaltigkeitspolitik

Bürgerräten wird großes Potenzial zugeschrieben, den Diskurs rund um komplexe gesellschaftliche Herausforderungen – etwa bei Fragen des Klimaschutzes, der Energieversorgung oder der Mobilität – inhaltlich zu bereichern und insbesondere bei unterschiedlichen Ausgangspositionen zu einer Verständigung beizutragen. Zugleich fördern sie ein aktives Verständnis von Bürgerschaft und schaffen demokratische Selbstwirksamkeitserfahrungen für die Beteiligten. Aus diesem Grund kommen sie auf allen politischen Ebenen und zu unterschiedlichen Fragestellungen immer öfter zum Einsatz (eine Übersicht bietet zum Beispiel www.bürgerrat.de).

Das Zufallsprinzip sorgt für eine ungewöhnlich hohe Diversität in der Zusammensetzung der Gruppe und zugleich dafür, dass die Teilnehmenden im Prozess keine speziellen Interessen oder Organisationen vertreten und sich den Fragestellungen vorrangig auf Basis ihrer persönlichen Lebensrealität nähern. Deshalb sind Bürgerräte in besonderer Weise auch für die Bearbeitung von Nachhaltigkeitsfragen eine wertvolle Bereicherung, denn sie machen das Alltagswissen der Bürgerinnen und Bürger als wertvolle Ressource für schwierige Entscheidungsprozesse zugänglich. Außerdem zeigt eine Reihe von Untersuchungen, dass es Bürgerräte ermöglichen können, gemeinwohlorientierte, vernünftige Lösungsvorschläge für kontroverse Themen zu finden.

Begleitung von Bürgerräten durch das RIFS

Das RIFS begleitet Bürgerratsprozesse und nimmt dabei unterschiedlichen Kompetenzen und Rollen wahr.

Je nach Thema und Fragestellung, mit der sich ein Bürgerrat befassen soll, ist zum Beispiel die Einbindung von Fachleuten oder evidenzbasiertem Wissen in den Beteiligungsprozess von Vorteil: RIFS-Forschende haben beispielsweise den zivilgesellschaftlich initiierten Klimabürgerrat auf Bundesebene als Inputgeber und Mitwirkende im wissenschaftlichen Kuratorium begleitet. Auch im Rahmen des Berliner Klimabürger*innenrats war das RIFS involviert, um im Vorfeld des Bürgerrates realistische Alltagsszenarien mitzuentwickeln, auf deren Grundlage die Bürgerinnen und Bürger ihre Empfehlungen für eine wirksame Berliner Klimapolitik erarbeiteten.

RIFS-Forschende führen auch die wissenschaftliche Evaluation und Qualitätssicherung von zahlreichen Bürgerratsprozessen durch. Zuletzt hat das RIFS gemeinsam mit dem Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Universität Wuppertal den Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt evaluiert und zusätzlich eine Handreichung an den Bundestag verfasst, in der Handlungsempfehlungen für eine mögliche Institutionalisierung von Bürgerräten dargelegt werden. Auch den Bürgerrat „Forum Corona“ in Sachsen hat das RIFS wissenschaftlich evaluiert.

Darüber hinaus bringen RIFS-Forschende immer wieder spezifisches „Prozess-Wissen“ in die Ausgestaltung von Bürgerratsprozessen ein. Wie andere Formen der Bürgerbeteiligung auch, benötigen Bürgerräte eine Vielzahl von Voraussetzungen, um ihre intendierten Wirkungen sowie erwünschte Nebeneffekte erzeugen zu können. Diese Voraussetzungen müssen aktiv gestaltet werden, was eine enge Zusammenarbeit mit Verantwortlichen aus Politik- und Verwaltung sowie prozessbegleitenden und zivilgesellschaftlichen Akteuren erfordert. Das RIFS berät unterschiedliche Initiativen bei der strategischen und operativen Planung von Bürgerräten. Aktuell zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Mehr Demokratie e.V. im Rahmen des LOSLAND-Projekts, das in zehn Kommunen in Deutschland Bürgerräte beziehungsweise Zukunftsräte realisiert.

Reflexionen und Erkenntnisse aus ihrer Begleitung von Bürgerräten  arbeiten die RIFS-Forschenden in wissenschaftlichen Publikationen auf, die zuletzt zum Beispiel hier, hier und hier erschienen sind. In internationalen Netzwerken und Forschungsverbünden wie Participedia, Democracy R&D oder dem Knowledge Network on Climate Assemblies arbeiten RIFS-Forschende eng mit Partnern auf der ganzen Welt zusammen und realisieren gemeinsame Projekte, zum Beispiel den ersten weltweiten Bürgerrat, die „Global Assembly“, die im Jahr 2021 stattfand.

Bürgerräte als ein Baustein in einer lebendigen Demokratie

Bürgerräte sind nur eine von vielen Möglichkeiten, um demokratische Entscheidungs- und Veränderungsprozesse zu bereichern und zu stärken – gerade auch mit Blick auf die Bearbeitbarkeit der großen Herausforderungen im Bereich der Nachhaltigkeitspolitik. Der RIFS-Forschungsbereich „Demokratie und Nachhaltigkeit” vereint eine Vielzahl von Forschungsprojekten und transformativen Aktivitäten, die darauf abzielen, demokratische Strukturen und Kulturen zu bereichern. Die Begleitung von Bürgerbeteiligungsprozessen, Aktivitäten im Bereich der Politikberatung und disziplinäre Wissenschaften treffen in diesem Forschungsbereich aufeinander und erzeugen in Kooperationsprojekten und gemeinsamen Lern- und Reflexionen neue Erkenntnisse für die demokratische Praxis und Theorie.

Bezeichnung des Bürgerrates Zeitraum Links Auftraggeber des Bürgerrates Politische Ebene Infos Projektpartner RIFS-Rolle im Kontext des Bürgerrats Beteiligte RIFS- Mitarbeitende Links zu Ergebnissen Impacts
Bürger_innenräte Tempelhof-Schöneberg 2019-2020 Offizielle Projekt-Homepage Homepage der Initiatorinnen Bezirksbürgermeisterin A. Schöttler (BzBM) Kommunal 7 Bürgerräte in allen Teilorten von Tempelhof-Schöneberg Fragestellung: “Wie können wir unseren Stadtteil lebenswert erhalten und die Zukunft gemeinsam gestalten?”
Finanzierung durch Stadt Berlin Initiiert durch Bürgergruppe
Bürgergruppe “Nur Mut” Adribo (Evaluation) 5 freiberufliche Moderatorinnen Beratung (Anbahnungsphase; Prozessdesign; Umsetzung) Daniel Oppold Abschlussbericht Evaluation Adribo Schaffung einer Stabsstelle für “Dialog und Beteiligung” im Bezirksamt Folgeprojekte mit BzBM zur Stärkung der Beteiligungskultur im Bezirksamt Aufnahme von Bürgerräten in die “bezirklichen Leitlinien zur Bürgerbeteiligung”
Demokratie-Experiment “Demokratie neu Denken” in Magdeburg 2019 MDR Dokumentation, in der auch über das Experiment berichtet wird Bürgermeister Trümper Kommunal 3 Bürgerräte mit unterschiedlichen Prozessdesigns zur selben Fragestellung: “Wie kann Magdeburgs Innenstadt attraktiver für Fußgängerinnen werden?” MDR-Fernsehteam (WTS Mixed Media) 2 freiberufliche Moderatorinnen Prozessdesign und Begleitforschung in Form einer explorativen Studie Dorota Stasiak; Dirk v. Schneidemesser; Giulia Molinengo; Daniel Oppold; Nicolina Kirby Paper Giulia Molingeno Einfluss der Ergebnisse als Empfehlungen zur die Weiterentwicklung eines Stadtentwicklungsplanes
Bürgerrat Demokratie 2019/2020 https://demokratie.buergerrat.de/ Bundestagspräsident Schäuble als Schirmherr national erster Bürgerrat auf Bundesebene. Von Mehr Demokratie e.V. und Partnerorganisationen konzipiert und mit Stiftungsgeldern umgesetzt   Beratung im frühen Vorfeld des Bürgerrates (Keine Involvierung beim eigentlichen Projekt!) Patrizia Nanz Daniel Oppold    
Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt 2021 https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/ Ältestenrat des Bundestags als Auftraggeber national zweiter Bürgerrat auf Bundesebene zur Fragestellung, welche Rolle Deutschland in der Welt einnehmen sollte. Fragestellung wurde vorab im Ältestenrat des Bundestages abgestimmt. IDPF Wuppertal; Mehr Demokratie e.V. formative Evaluation des Bürgerrates Nicolina Kirby Daniel Oppold Ortwin Renn BR-Evaluationsbericht Handreichung an den Bundestag Zahlreiche Folgeworkshops und Gespräche. Ankündigung im Koalitionsvertrag, weitere Bürgerräte auf Bundesebene einzuberufen.
Bürgerrat Klima (zivilgesellschaftlich initiiert auf Bundesebene) 2021 https://buergerrat-klima.de/ BürgerBegehren Klimaschutz e.V. (keine Beauftragung von Parlament o.Ä.) national zivilgesellschaftlich initiierter und finanzierter Bürgerrat zur Klimapolitik.   wissenschaftliche Beratung (Ortwin Renn im Vorsitz des wiss. Kuratoriums) Ortwin Renn, Mark Lawrence (Mitglied des Kuratoriums) https://buergerrat-klima.de/ergebnisse-gutachten?mc_cid=0886840026&mc_eid=ca8dfafbd3 Bürgergutachten wurde allen Spitzenkandidatinnen im Bundestagswahlkampf persönlich übergeben.
Berliner Bürgerrat Klima 2021-2022 https://www.berlin.de/klimabuergerinnenrat/ Sebatsverwaltung für Umwelt, Verbraucherschutz und Verkehr Berlin/ Berliner Abgeordnetenhaus Länderebene Bürgerrat auf Ebene der Gesamtstadt; neun Sitzungen; Erabeitung klimapolitischer Empfehlungen, für Senat und Abgeordnetenhaus Grundlage für die Diskussion sind Alltagsszenarien anhand derer die Teilnehmenden das Für und Wider verschiedener Maßnahmen diskutieren und gemeinwohlorientierte Handlungsempfehlungen in den Bereichen Verkehr, Gebäude & Wärme und Energie entwickeln sollen Nexus Klimamitbestimmung Beratung/ Auswahl der wiss. Expert_innen Zuarbeit für die Alltagszenarien Charlotte Unger Melisa Özcelik, (Daniel Oppold) noch nicht vorhanden noch nicht bekannt
Bürgerrat Forum Corona Sachsen 2021-2022 Homepage des Ministeriums Homepage der Durchführen-den Homepage Evaluation am IASS Sächsische Staatsregierung Bundesland 50 zufällig ausgeloste Sächsinnen und Sachsen haben in mehreren Sitzungen 43 Handlungsempfehlungen für die Politik erarbeitet. Erster Bürgerrat für das Bundesland Sachsen Themen: Gesundheit, Wirtschaft, Bildung und Kultur, Politik & Verwaltung Initiator: Sächsisches Staatsministerium für Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung Rein digitaler Bürgerrat Für das IASS war nexus Projektpartner. Der Bürgerrat wurde von der Initiative Offene Gesellschaft durchgeführt Evaluation David Löw Beer Victoria Luh Abschlussbericht wurde Anfang Mai 2022 eingereicht und soll veröffentlicht werden. Verschiedene Bürgerräte sollen folgen. Über die Förderrichtlinie Bürgerbeteiligung soll Bürgerbeteiligung in Sachsen umfassend gefördert werden. Gründung eines Fachnetzwerks Bürgerbeteiligung in Sachsen zur Unterstützung insbesondere kommunaler Beteiligung sowie eines politischen Beratungsnetzwerkes
LOSLAND 12/2020 - 12/2022 www.losland.org Bürgermeister und Stadt-/Gemeinderäte vor Ort kommunal Begleitung von 10 Kommunen bei der Durchführung von “Zukunftsräten”: Bürgerräten, bei denen die Frage nach der Gestaltung einer Enkeltauglichen Zukunft im Mittelpunkt steht - angepasst auf konkrete Fragestellungen vor Ort. Mehr Demokratie e.V. Bundeszentrale für politische Bildung Die 10 Kommunen Projektentwicklung Co-koordination des Projekts Beteiligungsprozessentwicklung mit den Akteuren vor Ort Beratungsleistungen Beforschung in separatem Team Daniel Oppold (+ weitere Personen des Co-Creation Teams) diverse Blogbeiträge auf www.losland.org/blog inhaltliche Fortschritte in/für die Kommunalpolitik Empfehlungen an Landes- und Bundespolitik zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für lokale Bürgerbeteiligungsprozesse
Global Assemby 2021/2022 https://globalassembly.org/ zivilgesellschaftlich initiiert weltweit Citizens’ Assembly mit 100 Teilnehmenden aus der ganzen Welt. Erarbeitung von klimapolitischen Empfehlungen für die COP 26 in Glasgow https://globalassembly.org/about-2 Forschung (Evaluation) Azucena Moran (+ weitere Personen des Co-Creation teams) Evaluationsbericht in Arbeit Beeinflussung der COP Verhandlungen in Glasgow