Headline: How Long Is Now? Reflexionen über Berlin, die Tiefe der Zeit und die Zukunft des Planeten

Geht man die Oranienburger Strasse in Berlin-Mitte Richtung Westen, dominiert das haushohe Wandgemälde How Long Is Now den Horizont und überstrahlt andere imposante Gebäude in der Nachbarschaft. Wie ich erfahren habe, handelt es sich um ein mittlerweile legendäres Kunstwerk an der Seitenfassade des baufälligen Kunsthauses Tacheles (jiddisch für „Klartext reden“). Das Gebäude verkörpert etwas, das für die Stadt insgesamt gilt, wenigstens wie sie zunächst von einem Außenseiter erlebt wird: Es präsentiert eine Abfolge äußerer und innerer revolutionärer Veränderungen. Das Haus, einst das Zentralbodenamt der SS, dann Kriegsgefangenenlager, liegt nur einen Steinwurf entfernt von der Neuen Synagoge (eines der wenigen jüdischen Gotteshäuser in Berlin, das in den Novemberpogromen von 1938 nicht zerstört wurde). Während der DDR-Zeit wurde es vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund übernommen, nach der Wiedervereinigung machten Hausbesetzer ein öffentlich zugängliches Kulturzentrum mit angeschlossenem Skulpturenpark daraus. Heute ist es als Ort des Erinnerns nicht mehr wegzudenken und regt zu einem vielleicht nostalgischen („ostalgischen“) Blick zurück auf Berlins jüngste kreative Vergangenheit an.

Das Tacheles-Wandgemälde: melancholischer Seufzer der Resignation oder utopische Geste?

„Epoche“ ist ein in der Geschichtswissenschaft häufig überstrapazierter Begriff (es regt sich der Verdacht, dass Anfang und Ende allzu feinsäuberlich abgegrenzt werden), aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Epochen in Berlin ihrer Zeit teils voraus sind, teils hinterherhinken. Der Impuls, zu vergessen und sich zu erinnern (Nietzsche sah einen Zusammenhang zwischen Verdauungsstörungen und Nicht-Vergessen-Können), schien unter einer dialektischen Spannung zu stehen, statt dass Erinnern und Vergessen einander regelmäßig ablösen und somit regulieren würden. Die unaufhörliche Umgestaltung und Neuinterpretation öffentlicher Räume, ihrer Aufgaben und Bedeutungen gemahnt an das, was der deutsche Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ nannte. Das heißt: Wir leben in multiplen, einander überlappenden historischen Zeiten statt in einer dominanten und „homogenen“ Zeitfolge.

Ohne Fragezeichen hingestellt, ist How Long Is Now halb melancholischer Seufzer der Resignation, halb utopische Geste. Einerseits beklagt es die Qualität der gelebten Zeit als kontinuierliche Vernichtung des Augenblicks, des gegenwärtigen Moments. Andererseits verweist es auf die ewige Bedeutung, die der gegenwärtige Moment für uns haben könnte. Vielleicht deutet es auch so etwas wie Walter Benjamins Geschichtskritik an. Benjamin suchte eine radikale Alternative zur Wahrnehmung der Geschichte als Einbahnstraße, als leere Abfolge von „Jetzt“-Momenten. Letzteres können wir mit einer immer noch vorherrschenden Philosophie des Fortschritts assoziieren, eines dialektischen Fortschreitens im Dienste der einen oder anderen ideologischen Zukunft. Für Benjamin wäre die messianische Kraft des „Jetzt“ die Antithese zu diesem historischen Ansatz, durch den Rückgriff auf die Vergangenheit, die Befreiung ihrer Geister und die Bloßlegung des einst Verlorenen.

Rechnen Menschen damit, dass die Zukunft der Menschheit lange währt? Warum spielt das eine Rolle?

Der Zusammenhang war für mich ein glücklicher Zufall. In seinem Erinnerungsbuch Berliner Kindheit um Neunzehnhundert beschäftigt sich Benjamin mit der Fähigkeit eines Kindes, urbane Bilder der Vergangenheit als utopische Objekte in der Gegenwart zu nutzen. Deshalb kam mir dieser Denker gleich in den Sinn, als das Wandgemälde erstmals meine Blicke auf sich zog. Und eine Erinnerung an die „homogene und leere Zeit“ wurde zum begrifflichen Anker für meine Forschungsarbeit am IASS. Meine Zeit als Fellow markierte das erste Stadium in der Entwicklung einer Monografie, in der ich die Beziehung zwischen christlicher Eschatologie (Endzeitglauben) und zeitgenössischen ökologischen Narrativen der Zukunft untersuche.

Eine aktuelle Frage, mit der sich dieses Projekt beschäftigt, lautet: Rechnen Menschen damit, dass die Zukunft der Menschheit lange währt? Warum ist diese Überlegung wichtig, und auf welchen philosophischen und religiösen Grundlagen beruht sie? In diesem ersten Stadium meiner Forschung wollte ich mich dieser Frage über die Auseinandersetzung mit einem neuen Trend des Nachdenkens über die „tiefe Zukunft“ im ökologischen Diskurs nähern. Tiefe Zukunft meint die Vorstellungen von den längerfristigen (Jahrhunderttausende währenden) Folgen des menschlichen Verhaltens für den Planeten. Mein Interesse an diesem Trend entstand vor allem durch meine Beschäftigung mit der Aktualität der Idee des Anthropozäns – der Idee, dass menschliches Handeln die Erde in einen neuen, unverwechselbaren geologischen Zustand bringt, der für Beobachter in ferner Zukunft klar erkennbar wäre.

Auf den Zeithorizont kommt es an

Was mich an dieser Debatte von jeher fasziniert hat, ist dieses Gedankenexperiment: Ein Forscher in ferner Zukunft, der die menschliche Geschichte anhand der von uns hinterlassenen Fossilien entdeckt, zeigt die ethische und kulturelle, aber auch wissenschaftliche Bedeutung des Anthropozäns auf. Im Grunde werden Umweltschützer auf diese Weise angehalten, viel grundlegendere Fragen zu überdenken: In welcher Zeit leben wir überhaupt? Auf welche Zeithorizonte (von welcher Länge und Tiefe?) kommt es für uns – heute – an? Was bedeutet die „Zeit der Menschheit“ jetzt, da menschliche Zeit scheinbar – durch ihre Umweltfolgen - in gewaltige geologische Zeitspannen eingeschlossen ist? Sollten wir uns darum kümmern, welches Erbe Menschen für die tiefe Zukunft hinterlassen? Wie haben sich Konzepte von Ursprung und Bestimmung des Menschen, die für theologische und humanistische Narrative so bedeutend sind, eingetrübt im Lichte unserer Vorstellung von der fernen Zukunft?

Solche Fragen erfordern ein neues Denken in den Gebieten, auf denen ich arbeite: Theologie und Philosophie. Aber sie veranlassten mich auch zu einer direkteren Beschäftigung mit dem Konzept der Zeit im öffentlichen Umweltdiskurs. Warum und wie beschäftigen sich Umweltjournalisten, Aktivisten und Ethiker mit dem viel größeren Zeitrahmen, den die Analyse der Erdsysteme heute bereitstellt? Wie richtet man sich imaginär in solchen Zeithorizonten ein? Der erste Hinweis, den meine Forschung in Potsdam zutage förderte, war, dass Manifestationen der Imagination einer tiefen Zukunft in der Zukunftsforschung und der Populärwissenschaft (ich wählte zwei Beispiele aus den USA: die Long Now Foundation und Curt Stagers populärwissenschaftliche Schriften) auf einer zuversichtlichen moralischen Prämisse des Anthropozäns als Konzept beruhen. Solche Autoren meinen, der Blick in die fernere Zukunft des Planeten sollte größere Umsicht bezüglich der unmittelbaren (menschlichen) Zukunft hervorbringen; die Projektion eines Forschers – wie wir - in ferner Zukunft, der unser Erbe auf dem Planeten entdeckt, sollte eine Ethik zum Schutz des Planeten motivieren. Zweitens setzen sie eine unumstrittene (und bisher nicht hinterfragte) Annahme voraus, nämlich dass das Überleben der Spezies Mensch das ethische Prinzip darstellt, aus dem alle anderen Überlegungen fließen sollten.

Menschliches Handeln verzögert die nächste Eiszeit um 50.000 Jahre  weit über den Zeitpunkt unseres Aussterbens

Meine zweite Beobachtung war, dass solche zuversichtlichen moralischen Ausgangspunkte über eine gewisse „Unheimlichkeit“ hinwegtäuschen, die sich in den Umweltdiskurs eingeschlichen hat und die offenbar mit solchen Verschiebungen der Zeitdimensionen einhergeht. Denn es ist nicht so sehr die „lange Sicht“, die die moralische Reflexion trübt. Vielmehr ist es ihr Nebeneinander mit unmittelbareren ethischen Fragen der ökologischen und sozialen Gerechtigkeit. Ungeachtet der heute anerkannten Überlegungen des Historiker Chakrabarty zur Bedeutung des Anthropozäns für das Nachdenken über Geschichte, der feststellt, dass wir „menschliches Handeln gleichzeitig anhand von mehreren, nicht vergleichbaren Maßstäben denken“ müssen, wurde nie erfolgreich artikuliert, was dies für Umweltaktivisten und Politiker in der Praxis bedeutet. Zu Beginn meiner Forschungsarbeit am IASS stieß ich in unmittelbarer Nachbarschaft auf ein faszinierendes Beispiel für diese „unheimliche“ Zeitlichkeit. In einer Forschungsarbeit für Nature (Januar 2016), an der Joachim Schellnhuber (Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung) mitwirkte, wurde festgestellt, dass menschliches Handeln den Anfang der nächsten Eiszeit um 50.000 Jahre hinausgeschoben habe. Mit anderen Worten: Menschen haben die nächste Eiszeit verhindert, die unter „normalen“ Umständen in etwa 50.000 Jahren beginnen würde –, was die Anthropozän-These elegant bestätigt.

Aber man betrachte, wie ein Interviewer Schellnhubers Erkenntnis auf den Punkt bringt: „Auf der positiven Seite können wir erleichtert aufatmen, dass wir die nächsten beiden Eiszeiten abgeblasen haben, die eine sehr große Herausforderung für die Zivilisation darstellen würden. Die Erleichterung wird aber gedämpft durch die wachsende Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit, falls wir angesichts des Klimawandels nicht bald aufwachen, wohl kaum auch nur annähernd noch 50.000 Jahre lang auf der Erde existieren wird!“ (Envisionation Januar 2016) Dieses Nebeneinander von Zeitlichkeiten illustriert, was der Literaturtheoretiker Timothy Clark die „Anthropozän-Störung“ nennt: jenen „instabilen emotionalen Ton“, der durch den Versuch entsteht, großangelegte Narrative der fernen Zukunft neben und innerhalb der traditionellen Parameter der Umweltethik zu denken.

Welche Auswirkungen haben unterschiedliche Vorstellungen von der Zeit auf den Umweltaktivismus?

Letztlich habe ich bei meinem Aufenthalt in Berlin und Potsdam festgestellt, dass mich diese Beobachtungen wieder zu den klassischen Texten der Kritik an der „säkularen modernen Zeit“ zurückgeführt haben. Das heißt: Ich habe mich erneut den Texten von Walter Benjamin, Hannah Arendt, Giorgio Agamben und Charles Taylor zugewandt, um sie in einem neuen Licht zu untersuchen. Für diese Denker war das Erbe der säkularen modernen Vorstellung von der Zeit als linearer Vorwärtsbewegung aus dem christlichen Glauben an einen Endpunkt, das eschaton, entnommen. In der Moderne wurde Zeit dann als unendlicher Prozess gesehen, der nach Hannah Arendt sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft ins Unendliche reicht - wobei die einzelnen geschichtlichen Momente jeder existenziellen Bedeutung beraubt wurden.

Diese Denker durchleuchteten kritisch, in welcher Weise eine solche moderne Zeitvorstellung die Logik der Fabrikarbeit und das Paradigma des „unaufhörlichen Wachstums“ im globalen Kapitalismus gutheißt und fördert. Aber diese Warnung ist auch für meinen speziellen Kontext relevant. Der Verdacht, dass die Anthropozän-Imagination einen tief sitzenden und paradoxen Wunsch repräsentiert, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der irdischen Geschichte zu rücken, könnte sich auf diese Reflexionen zur tiefen Zukunft als unendlichem Kontinuum von „Jetzt“-Momenten ausweiten. Es könnte sich in dem Wunsch spiegeln, jene ferne Zukunft unter dem Aspekt der menschlichen Zeit zu betrachten, wie es bei der „Clock of the Long Now“ in den Vereinigten Staaten der Fall ist (eine solarbetriebene Uhr, tief im Erdboden vergraben, die die nächsten 10.000 Jahre überdauern soll). Zu untersuchen, welche alternativen Zeitvorstellungen (darunter eine Rückkehr zu den theologischen Ideen von messianischer und apokalyptischer Zeit) sich als Kritik gegen diese Annahme richten und welche Bedeutung sie für den Umweltaktivismus haben, wird das nächste Stadium meiner Forschung sein.

Bild oben: Brad Warner

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