Headline: Diese arroganten Energiewendetypen

Die deutsche Energiewende bildet den Hintergrund für Juli Zehs Roman Unterleuten. Der Titel ist mehrdeutig. Erstens ist Unterleuten der Name eines Dorfs, dessen Bewohner eines Tages erfahren, dass in unmittelbarer Nähe ein Windpark errichtet werden soll. In seiner wörtlichen Bedeutung verweist der Titel jedoch auf das menschliche Miteinander. Und bei „Unterleute(n)“ mag auch die Konnotation „Bürger zweiter Klasse“ anklingen, analog zu „Untermenschen“.

Die Energiewende ist kein x-beliebiger Hintergrund für Unterleuten

Wir werfen also einen Blick in die Welt jener, die vom Fortschritt abgehängt wurden. Die „Unterleute“ des Dorfs Unterleuten finden, dass ihre Bedürfnisse von den Eliten ignoriert werden – ein subtiler Gruß an den Anti-Establishment-Populismus, der von Trump bis zum britischen Brexit und der deutschen AfD um sich greift.

Der Roman erhielt in der literarischen Welt allgemein wohlwollende Kritiken; betont wird dabei das Porträt moderner Individuen, die für ihre persönlichen Interessen kämpfen, wobei das, was man als Gemeinschaft oder Gesellschaft bezeichnen könnte, zunehmend aus dem Blick verschwindet. Aber diese Besprechungen übersehen meist die spezielle Darstellung von Fragen der Energiewende, als könnte für die Handlung auch jeder andere Hintergrund herhalten.

Für Energieexperten ist die Energiewende aber kein beliebiges Thema, sondern steht absolut im Mittelpunkt. Diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, zugegebenermaßen keine repräsentative Zahl, erklärten, dass ihnen das Buch gegen den Strich ging. Warum die abweichende Deutung?

Was kann man daran nicht mögen?

Die Handlung ist nicht nur faszinierend, sondern auch gut erzählt. Für Energiewende-Experten besteht jedoch das Problem darin, wie der Windparkunternehmer dargestellt wird. Er beruft eine Bürgerversammlung ein, aber nicht weil er, wie alle annehmen, um Unterstützung für sein Projekt bitten möchte, sondern nur – wie er enthüllt, als Einwände erhoben werden – um alle zu informieren, dass der Windpark kommt und auf wessen Grund und Boden welche Turbinen stehen werden. Die Einheimischen haben kein Vetorecht, weil, wie er ihnen gelangweilt erklärt, die Bundesregierung ihre Klimaziele erfüllen muss. Einige Leute bekommen Windräder, ob sie wollen oder nicht. (Ironischerweise streiten sie am Ende darum, wer was kriegt, weil sie auf die Einnahmen erpicht sind.)

Der Projektentwickler ist also arrogant und unsympathisch. Windkraft wird außerdem verleumdet; an einer Stelle macht sich eine Figur Gedanken um alles Schlechte in Zusammenhang mit Windkraftanlagen – laut, tödlich für Vögel, hässlich und unzuverlässig. Es ist die kompakteste Auflistung von solchem Unsinn, die mir je untergekommen ist (auch das eine literarische Leistung).

Fragwürdige Aussagen über die Energiewende bleiben stehen – schließlich ist es ein Roman!

Hier dürfen wir nicht vergessen, was Literatur ist. Schließlich hat die Schriftstellerin nicht die Aufgabe, ihre Figuren zu korrigieren, sondern sie realistisch darzustellen. Der amerikanische Autor Ishmael Reed hat bei einer Lesung einmal die rhetorische Frage gestellt: „Warum regen sich manche Feministinnen über mich, den Schriftsteller, auf, wenn eine meiner männlichen Figuren ein Sexist ist?“ Aussagen, die wir gern korrigiert sehen würden, bleiben in guter Literatur einfach stehen.

Wahrscheinlich sollten die Energiewendetypen Juli Zeh für dieses Buch sogar dankbar sein. Im Jahr 2050, falls die Ziele einigermaßen erreicht werden, wird es wegen neuer Windparks keine Bürgerversammlungen mehr geben. Die jungen Leute wissen dann vielleicht nicht einmal mehr, wie solche Versammlungen einmal aussahen. Deutschland wird dann alle Windkraftanlagen haben, die es braucht, und neue, größere Turbinen werden, wenn nötig, die alten ersetzen. Aber es wird keinen weiteren massiven Ausbau geben. Die Unternehmen, die diese Anlagen besitzen und betreiben – und das sind nicht unbedingt die heutigen Energiekonzerne – werden die neuen etablierten Herren sein (und deshalb sollten wir sie heute sorgfältig auswählen).

Derzeit sind wir Zeugen eines industriellen Umbaus, der so gewaltig ist, dass wir womöglich den gesellschaftlichen Wandel übersehen, den er mit sich bringt. So wie wir heute Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz als Zeitreise in das Berlin der 1920er Jahre lesen, so mögen die Menschen im Jahr 2100 Zehs Roman zu einem Besuch in einer Epoche nutzen, die sich von der ihren in einem Maße unterscheidet, wie wir es uns heute kaum vorstellen können. Was uns offensichtlich erscheint, wird ihnen nur mithilfe von Fußnoten verständlich sein, so wie wir heute nicht recht wissen, was wir mit dem „Electric Brougham“ in einer Short Story (PDF) von Katherine Mansfield aus dem Jahr 1908 anfangen sollen (sie kam nicht auf die Idee zu erklären, was ein Elektroauto ist – nur vier Jahre, bevor Elektrofahrzeuge ausstarben). „So war das also mit der Energiewende“, mögen die Leser von Unterleuten 2100 denken, „sonderbar.“

Lektionen für Energiewende-Campaigner

Die meisten Menschen machen sich um den Klimawandel keine großen Sorgen; in diesem Roman hebt das Thema nicht einmal sein hässliches Haupt, bis der Windparkentwickler auftaucht. Normale Menschen haben unmittelbare Probleme – weinende Kinder, Rechnungen, die bezahlt werden müssen, gesundheitliche Beschwerden, Familienstreit, was auch immer. Der Klimawandel liegt zu weit in der Zukunft, ist zu abstrakt, um heute für sie im Vordergrund zu stehen.

Diese Einsicht ist hilfreich. Immer wieder höre ich dasselbe über Energieprojekte in Kommunen: Die Menschen wollen zuerst ihr Dorf retten, dann erst den Planeten. Erneuerbare-Energien-Entwickler sollten erst einmal überlegen, welche Fragen die Menschen vor Ort beschäftigen, und dann sehen, ob ein Erneuerbare-Energien-Projekt helfen kann – das exakte Gegenteil von dem, was in Unterleuten geschieht.

Ich kenne viele Fälle, in denen Einheimische die Sache selbst in die Hand nehmen und Wind-, Biomasse- und Solaranlagen in einer Geschwindigkeit bauen, die von der Gemeinschaft akzeptiert wird – und letztlich 100 Prozent Erneuerbare für Strom und Heizung erreichen. Aber wer zum Teufel will derartig langweilige Geschichten lesen? „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich“, schreibt Tolstoi am Anfang seines Romans Anna Karenina (und schickt sich dann an, vom Unglück zu berichten). Unterleuten ist teilweise deshalb ein guter Roman, weil der Windparkkerl ein Unsympath ist.

Und nur weil eine Figur Windenergie schlechtredet, muss das nicht für das ganze Buch gelten. Im Gegenteil, es entsteht durchaus Situationskomik, wenn sich jemand über ein 1000 Meter entferntes Windrad mehr aufregt als über den Nachbarn, der den ganzen Tag auf Metall herumhämmert und Autoreifen verbrennt.

Aber vielleicht ist meine Interpretation ja übertrieben. Wenn Sie wollen, können Sie Unterleuten einfach als Thriller lesen, so funktioniert es ganz gut. Womöglich wird man das Buch in achtzig Jahren auch nur noch so lesen, wenn „Energiewende“ ein Wort geworden ist, das deutsche Kinder in der Schule lernen – und dann wieder vergessen, so wie den „Electric Brougham“.

Foto oben: Craig Morris

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