Mit heißem Tee emotionale Debatten um Verkehrsberuhigungen auflösen
17.11.2025
Von Immo Janssen, Nicolina Kirby, Dirk von Schneidemesser, Lea Fast und Luis Nacken
Urbane Transformationen erzeugen Spannungen: Städte müssen klimaresilienter und verkehrssicher werden. Aber Menschen haben Furcht vor Veränderung und sorgen sich, dabei übergangen zu werden. Dabei befürwortet die Bevölkerung, dass künftig Menschen und Natur statt Autos und Verkehrslärm Vorrang haben. Doch der Erfolg von Veränderung wird über das Wie der Umsetzung entschieden. Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern kommt in diesem Spannungsfeld eine hohe Bedeutung zu.
Das Problem: Städte und Ämter, die jahrzehntelang im Maßstab Auto planten, müssen jetzt nicht nur neue Werte in den Fokus ihrer Arbeit stellen, sondern zusätzlich als Kommunikationsexpert*innen und Träger*innen von Bürger*innenbeteiligung fungieren. Nicht selten ist Beteiligung für Städte ein kaum zu leistender Mehraufwand.
Die Konsequenz: Beteiligung und Kommunikation werden oft niedrig priorisiert und beschränken sich in der Wahrnehmung vieler Bürger*innen auf eine bloße (zu späte) Bekanntmachung bereits beschlossener Planungen. Gleichzeitig werden solche Aktionen begleitet von zunehmend polarisierter und politisierter Aufmerksamkeit in den Medien und Postfächern der Ämter mit teils heftiger Opposition.
Das KlimaKieze Projekt: In diesem Spannungsfeld braucht es mehr Wissen, welche Beteiligungsformate und Prozesse sich eignen. Zusammen mit dem Berliner Bezirksamt Mitte und der Universität Heidelberg hat das RIFS neue Ansätze zur Planung von und Beteiligung an sogenannten „Kiezblock“-Konzepten zur Verkehrsberuhigung und Klimaanpassung in Nachbarschaften erforscht, und herausgefunden, welche Arten der Beteiligung bestehende Gräben überbrücken und tragfähige Lösungen ermöglichen, und welche sie im schlimmsten Fall vertiefen können.
Kiezblocks sollen mit einfachen und kostengünstigen Maßnahmen wie Einbahn- und Fahrradstraßen, Fußgängerbereichen und Umleitungen gewährleisten, dass Wohngebiete von Kfz-Verkehren befreit werden, die dieses nur als Abkürzung nutzen. Dadurch steigt die Sicherheit, Straßenraum kann entsiegelt oder den Menschen die dort wohnen zurückgegeben werden und neue Grünflächen und Orte der Begegnung geschaffen werden. Eine effektive Lösung für Verkehrssicherheit und Klimaanpassung gleichermaßen, die auf Erfahrungen erfolgreicher Umsetzungen in verschiedenen Städten, wie Barcelona und Paris aufbaut und deren Umsetzung stetig erforscht. Viele „best practices“ aus der EU wurden auf tuneourblock.eu gesammelt.
Das Wissen von der Straße holen
Die Erfahrung von der Straße zeigt: Im direkten Gespräch bei dem Beteiligungsformat der mobilen Anlaufstellen lassen sich Mobilitätsthemen weniger hochgekocht und polarisiert diskutieren.
Eine Frau im Rollstuhl erzählt, öfter große Umwege nehmen zu müssen, weil Kreuzungen zugeparkt sind und abgesenkte Bordsteine fehlen. Ein älterer Herr wiederum wünscht sich, dass die Ampeln um den Kiez für Fußgänger*innen länger Grün schalten sollten. Alle Beiträge werden als Klebepunkte festgehalten, wofür die Anwohner*innen gebeten werden, die betreffende Stelle im Kiez auf einer ausgedruckten Karte zu markieren. Eine alte Dame berichtet von fehlenden Sitzgelegenheiten, die den früher regelmäßigen Treff mit ihren Freund*innen seit langem nicht mehr möglich macht. Für Städte unersetzbarer Input von einer sehr breiten Schicht der Anwohner*innenschaft mit hoher planerischer Verwertbarkeit.
Diejenigen, die sonst keine Zeit oder Vorwissen haben, planerische Tätigkeiten in zeitintensiven Formaten zu begleiten, etwa weil sie Care-Arbeit leisten, im Schichtdienst arbeiten, in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder zu alt oder zu jung sind, kommen zu Wort und werden gehört. So konnten die Erlebnisse von Schulkindern mit in die Planung des Bezirksamtes fließen, die gefährliche Kreuzungen auf ihrem Schulweg markierten. Eine Bevölkerungsgruppe die einen hohen Sicherheits- und Autonomiegewinn durch Kiezblockmaßnahmen hat, jedoch selten aktiv bei der Planung mitwirkt.
Hoher Anteil unbeteiligter Bevölkerungsgruppen erreicht
Dass Stimmen eingeflossen sind, die in „klassischen“ Beteiligungsverfahren kaum zu hören sind, ist keine Vermutung: an manchen Stellen in den beiden untersuchten Kiezen lag der Anteil derer, die zuvor noch nie bei einer Beteiligung mitgemacht hatten, bei über 90 Prozent (über alle Standorte hinweg 70 Prozent). Ein Anteil daran entstand durch eine Sprachmittlerin, die das Gespräch auf Türkisch, Kurdisch oder Englisch führen konnte. Auch die proaktive Ansprache und Nachfrage, half, anfangs skeptische oder desinteressierte Anwohner*innen zu KiezBlock Planer*innen zu machen.
Wenn die Nachbarschaft über Poller verhandelt
Genauso haben Beteiligungsverfahren, die strukturierter sind und von Teilnehmer*innen viel Zeit abverlangen, ihre Berechtigung im Kontext der Planung von Kiezblocks. So etwa die den Bürger*innenräten nachempfundenen Nachbarschaftsräte: Bis zu 22 per Losverfahren wild zusammengewürfelte Anwohner*innen arbeiteten über einen Tag am Wochenende mit dem Team des RIFS und dem Bezirksamt Mitte zusammen an der konkreten Planung des Kiezblocks. So zufällig das Los, so groß die Vielfalt an Hintergründen, Vorwissen und persönlicher Haltung gegenüber Verkehrsberuhigung und Klimaanpassung. Statt ihre perfekte Vision für die Zukunft zu entwickeln, wurden die Teilnehmer*innen aufgefordert, zu überlegen, was das „Perfect Desaster“, die schlimmste Entwicklung wäre, die ihren Kiez ereilen könnte.
Nachdem sich alle einig waren, dass vermüllte und zugeparkte Straßen niemand wirklich will, gab es den ersten Input. Die Universität Heidelberg stellte die Ergebnisse einer Haushaltsbefragung vor, die eindrücklich zeigte, dass ein Großteil der Menschen im Kiez wesentliche Maßnahmen befürworteten, die Ziele von Kiezblocks sind: Ersatz von Parkplätzen durch Grünflächen, Bäume oder Orte für die Nachbarschaft, sichere Schulwege und weniger Durchgangsverkehr.
Das Bezirksamt informierte in verständlicher Art über die planerischen Mittel: Wieviel kostet eine Fahrradstraße, wie lange dauert der Bau einer Schulzone und welche Vorteile haben Modalfilter gegenüber Bodenschwellen oder „Anlieger-frei“ Straßen haben, um den Durchgangsverkehr aus dem Wohnviertel zu halten?
Der Einsatz von Modalfiltern – abseits der Verkehrsforschung bekannter als „Poller“ – die große Fahrzeuge wie Autos rausfiltern, während man zu Fuß und per Rad weiter durchkommt, war ähnlich viel diskutiert wie in den Medien. Der große Unterschied zum medial unvereinbar dargestellten für und wider: Am Ende des Tages musste nach langer und intensiver Beratung mit professioneller Moderation eine planerische Lösung gefunden werden, die für alle tragbar war.
Im Konzept, das den Planer*innen des Bezirksamtes am Ende des Tages zurückgegeben wurde in beiden Kiezen dabei: die Pöller, deren Vorteile für die wirksame Reduktion des Durchgangsverkehrs allgemein anerkannt wurden.
Das Format gibt den Diskurs vor
Häufig medial rezipiert, Anlass für großen Ärger und erhitzte Gemüter bei Planungen von Kiezblocks: die Sorge von Gewerbetreibenden vor Umsatzeinbußen durch die Verkehrsberuhigung. Zwar zeigen aktuelle Studien, dass der Einzelhandel sogar profitiert. Dennoch sind Sorgen stets legitim und rühren oft daher, dass Gewerbetreibende den Anteil der Kundschaft mit dem Auto stark überschätzen.
Die Erfahrung zeigt, dass frühzeitige Kommunikation und Beteiligung am Vorhaben ermöglicht, Gewerbetreibende von Gegnern zu Partnern zu machen – oder diesen zumindest die Sorgen zu nehmen vermag und teils medial hochgekochte Missverständnisse zu entschärfen, wie die häufig geäußerte Fake-News, dass Kiezblocks nicht mehr mit dem Auto befahrbar seien. Im Format der gezielten Stakeholder-Beteiligung wurden deshalb bewusst Gewerbetreibende befragt. Aus einem Gespräch mit einem Ladenbetreiber darüber, dass sein Laden weiterhin mit dem KFZ erreichbar bleibt (anders als er zunächst glaubte), kristallisierte sich auch heraus, dass er zugleich Anwohner ist und sich schon lange wünscht, etwas würde gegen die Raser im Viertel getan. Auch wenn Beteiligung den Ladenbesitzer nicht zum glühenden Kiezblock-Fan gemacht hat – das ist auch nicht der Sinn von Beteiligung – kann durch einfache Ansprache ein Verständnis für das Vorhaben geschaffen werden – und mitunter können spätere Klagen, neue Gespräche und Opposition vermieden werden.
Wie wichtig die proaktive und frühzeitige Kommunikation ist, hat die zu späte Einbindung einer Wohnbaugenossenschaft mit mehreren tausend Mitgliedern im Kiez gezeigt. Diese empfahl ihren Mieter*innen, ihrem Unmut über die zu späte Information im Format der Online-Beteiligung Luft zu machen. Hier konnten alle die wollten anonymisiert auf eine Karte Bedarfe, Probleme und Lösungen im Kiez identifizieren. Das Ergebnis: Neben konstruktiven und für das Bezirksamt verwendbaren Zusendungen entluden sich Wut und Ärger. Bei einer Informationsveranstaltung lud das Bezirksamt ein, um über die beim Nachbarschaftsrat kontrovers-konstruktiv beschlossenen Pläne zu informieren. Dorthin kamen vor allen die „üblichen Verdächtigen“, voll mobile Menschen zwischen etwa 30 und 75 Jahren, überwiegend männlich, die Angesichts dieser Pläne vermeintlich viel zu gewinnen, oder viel zu verlieren hatten. In der überfüllten Schulaula entlud sich die ganze Bandbreite des im Boulevard verbreiteten, politisch angeheizten medialen Diskurses. Laute Zwischenrufe, Beschimpfungen und dicke Luft. Verständigung über die bestehenden Gräben hinweg fand kaum statt.
Gelebte Beteiligungskultur funktioniert auch mit weniger Aufwand und Kosten
Neben diesen (und weiteren) Formaten wurden auch künstlerische Herangehensweisen an Beteiligung getestet. RIFS Fellow Julika Gittner konzipierte im Projekt Installationen die vor allem Kindern erlauben spielerisch die Idee von Kiezblocks kennenzulernen und deren Perspektiven auf ihren Lebensraum zu beleuchten (näheres dazu im Blogpost: Beteiligung zum Anfassen). Dies ermöglichte wiederum, die Eltern für ein Kurzinterview zur Situation im Kiez zu gewinnen.
In einer Welt, in der für jedes Projekt zur urbanen Veränderung genug Mittel zur Verfügung stehen, wäre der Kanon der zahlreichen getesteten Formate ein Goldstandard. Aber es geht auch mit weniger Aufwand und Kosten: über Formate wie den mobilen Anlaufstellen. Sie ermöglichen inklusive, direkte und breite Beteiligung verschiedenster Menschen und zusätzlich hohe planerische Verwertbarkeit. Der Nachbarschaftsrat wiederum kann polarisierte Einstellungen zu einem tragfähigen demokratischen Konsens überbrücken. Eine Informationsveranstaltung oder Online-Beteiligung ist schnell geplant, bietet aber kaum Möglichkeit für wirkliche Begegnung und konstruktiven Austausch. Und kann in Zeiten eines aufgeheizten übergeordneten Diskurs sogar noch zu einer Vertiefung bestehender Gräben führen.
Klar ist: Die geschickte Kombination ineinandergreifender Formate macht Beteiligung in aller Regel besser. Denn ein Format allein erreicht meist nur wenige Personengruppen und deckt nur einige der gewünschten Zwecke von Partizipation ab. Alles wichtige Erfahrungen, um Beteiligungskultur von einer lästigen Pflicht zu einer Chance für bessere Ergebnisse und wirklichen Austausch zu etablieren – wo dann auch ein Fehler verziehen wird.
Letzteres wurde besonders wichtig, als die weitere Finanzierung der Kiezblocks in Berlin Mitte des Jahres seitens des Senats eingestellt wurde. Zwar war die Finanzierung für die verkehrliche Planung und Umsetzung gesichert, für konkrete gestalterische Lösungen danach war jedoch kein Geld mehr da. Dazu trafen sich die Bürger*innen der Nachbarschaftsräte ein weiteres Mal um in einer Projektschmiede konkrete Lösungen für die Ausgestaltung der freiwerdenden Plätze mit motivierten Anwohner*innen zu organisieren. Ohne dieses Format gäbe es in einem der beiden Kieze heute zwar eine Freifläche, aber keine Mittel oder Menschen, die sich um den neu entstehenden Platz kümmern können.
Spaghettifest für den Kiez
Als die erste Fläche vor ein paar Wochen frei wurde, stellten die Anwohner*innen gemeinsam mit der Stadteilkoordination Wedding und weiteren lokalen Initiativen das erste „Spaghettifest“ mit offenem Buffett auf die freie Fläche, als Auftakt zum Mit- und Weitermachen an der Gestaltung des neuen Stadtplatzes. Hier wurden prompt neue Mitmacher*innen gefunden und die Arbeit an der Gestaltung neuer Grün- und Erholungsflächen aufgenommen. Hier auch dabei, RIFS Fellow Julika Gittner mit ihren Installationen.
Die Erfahrungen des Projekts werden übrigens als Praxisleitfaden für die Verwaltung ausgewertet – mit dem Ziel, auch technische Planer:innen mit wenig Ressourcen zu befähigen, Beteiligung als Chance zu sehen und zu realisieren.


