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Headline: Soziale Kipppunkte im Fokus

Während die physikalischen Kipppunkte des Klimas bislang viel erforscht wurden, fanden soziale Kipppunkte, an denen sich Gesellschaften an klimatische Veränderungen anpassen oder nicht, bislang kaum Beachtung. Ein internationales Team unter Mitarbeit von Pia-Johanna Schweizer vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) hat eine Studie veröffentlicht, für die Themen analysiert wurden, die bislang getrennt waren: die sozialen Kipppunkte, die Grenzen der Klimaanpassung und systemische Risiken.

Soziale Kipppunkte Governance
Soziale Kipppunkte sind Momente, bei denen eine kleine Veränderung eine abrupte, irreversible Änderung eines sozialen Systems auslöst. Shutterstock/ emerald media

Soziale Kipppunkte sind Momente in dynamischen Systemen, bei denen eine kleine Veränderung eine abrupte, irreversible Änderung eines sozialen Systems auslöst. Dies kann im Ergebnis sowohl negativ als auch positiv sein. Jedoch verändert sich ein soziales System anders als natürliche Gefüge, bei denen universelle Regeln und Gesetze zum Tragen kommen. Denn Menschen treffen Entscheidungen, die anfällig für Verhaltensvorurteile sind. Sie sind dabei von kulturellen Kontexten geprägt, die sich mit neuen Informationen und sozialen Einflüssen ändern und vielschichtig sind. Bisherige Forschungen zu sozialen Kipppunkten konzentrierten sich hauptsächlich aufs Abschwächen des Klimawandels oder die physische Dimension von klimabedingten Schocks. Soziale Komplexität in Modelle einzubeziehen, sei eben auch nicht trivial, so das Team. So seien beispielsweise Erdsystem- und integrierte Bewertungsmodelle (ESM und IAM) entscheidend für das Verständnis der gekoppelten Dynamik von Klima und sozioökonomischen Systemen auf der Makroebene, aber auch sie berücksichtigten nicht das menschliche Verhalten auf der Mikroebene.

Fallbeispiele der jüngeren Geschichte

Das Team von Autorinnen und Autoren hat daraufhin soziale Kippmomente an zwei Fallbeispielen aus der jüngeren Geschichte überprüft: am Arabischen Frühling und im indischen Tamil Nadu. Systemdynamische und agentenbasierte Modelle seien am besten dazu geeignet, so ihr Fazit, weil sie sowohl skalenübergreifende Rückkopplungen und Wechselwirkungen modellieren als auch Schwellenwerte und nichtlineare Prozesse integrieren. Andere Ansätze zur Modellierung komplexer Systeme, die Kaskadeneffekte beachten wie etwa dynamische Netzwerke, seien ebenfalls gut geeignet, um systemische Risiken zu analysieren. Andererseits würden Fragen zur Modellierung von menschlichem Handeln wie Unsicherheiten bei der Bestimmung von Freiheitsgraden und Handlungsspielräumen in dynamischen Netzwerken unzureichend behandelt, was ihre Anwendbarkeit einschränkt.

Agentenbasierte Modelle (ABMs) wiederum wurden ebenfalls untersucht und das Forschendenteam schlussfolgert, sie seien speziell darauf ausgelegt, Phänomene auf der Makroebene in nichtlinearen Systemen zu erfassen, die aus sozialen Interaktionen zwischen vielen heterogenen und begrenzt rationalen lernenden Handelnden entstehen. ABMs könnten selbstverstärkende Kettenreaktionen aufzeigen, die etwa antagonistisches und unsoziales Verhalten verstärken als auch systemische Risiken auslösen können. Sie könnten ebenso die Auswirkungen scheinbar unbedeutender Ereignisse nachzeichnen, die größere qualitative Veränderungen in sozialen Systemen auslösen. Darüber hinaus würden ABMs über die Modellierung des Verhaltens einzelner Akteurinnen und Akteuren hinausgehen und Veränderungen in sozialen Institutionen als Reaktion auf klimabedingte Gefahren erfassen können.

Transdisziplinäre Ansätze einbeziehen

Am Ende ihrer Studie liefern die Autorinnen und Autoren drei Punkte, mit denen das Risiko eines sozialen Kipppunktes behandelt werden sollte: Erstens sollte die Risiko-Governance auf einer eingehenden Analyse der Rückkopplungsmechanismen und Kaskadeneffekte zwischen Systemen und Teilsystemen beruhen. Dies kann mithilfe von formalen Modellen komplexer Systeme geschehen, die strukturelle Abhängigkeiten und Systemdynamiken sowie deren Einfluss auf menschliches Handeln erkennen lassen.

Zweitens muss Risiko-Governance auf die sich rasch ändernden gesellschaftlichen Kontexte und Anforderungen adaptiv reagieren können. Dies setze voraus, dass Governance in der Lage sei, sich anzupassen und vorausschauend auf Frühwarnungen für eine Kippkaskade zu reagieren und institutionelle Rahmenbedingungen, Regulierungssysteme, Netzwerke sowie die gesellschaftliche Wahrnehmung von Risiken zu berücksichtigen. Frühwarnsysteme können die Einbeziehung von Interessengruppen und der betroffenen Öffentlichkeit erleichtern noch bevor eine Anpassungsgrenze überschritten wird.

Drittens könnten transdisziplinäre Ansätze, die alle Interessengruppen einbeziehen, für problemorientierte und auf die Bedürfnisse der Gesellschaft eingehende Governance-Arrangements genutzt werden.

Publikation:

Sirkku Juhola1, Tatiana Filatova, Stefan Hochrainer-Stigler, Reinhard Mechler, Jürgen Scheffran and Pia-Johanna Schweizer: Social tipping points and adaptation limits in the context of systemic risk: Concepts, models and governance, Front. Clim., September 2022, Sec. Climate Risk Management. https://doi.org/10.3389/fclim.2022.1009234