Neue Narrative für transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung
18.12.2025
Ein Blogbeitrag von Felix Beyers, Philip Bernert, Karoline Augenstein, Viola Hakkarainen & Andra Horcea-Milcu
Die transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung ist im vergangenen Jahrzehnt stark gewachsen. Sie gilt heute weithin als zentraler Ansatz, um die miteinander verflochtenen ökologischen, sozialen und politischen Krisen unserer Zeit zu bearbeiten. Gleichzeitig erleben viele Forschende, dass transdisziplinäres Arbeiten anspruchsvoller, politischer und emotional intensiver geworden ist. In Zeiten von Polykrisen, schrumpfenden demokratischen Handlungsspielräumen und wachsendem Druck, „Impact“ nachzuweisen, stellen sich zwei zentrale Fragen:
Was bedeutet es, in herausfordernden Zeiten transdisziplinär zu forschen? Und welche Narrative leiten unser Handeln - oft implizit - indem sie bestimmen, was möglich, sichtbar und anerkannt wird?
Diese Fragen standen im Zentrum der RIFS-Konferenz 2025 „Tough Conversations in Tough Times“. Vor diesem Hintergrund haben wir die interaktive Session „Weaving New Narratives: A Generative Space for Reflecting and Practicing Transdisciplinary Sustainability Research“ initiiert. Die Session reagierte auf ein wachsendes Gefühl im Feld, dass transdisziplinäre Forschung nicht nur methodisch innovativ sein soll, sondern Orientierung geben muss: durch das gemeinsame Entwickeln tragender Narrative mit anderen im Feld und durch die Kultivierung relationaler Räume, in denen kollektives Verständnis und künftige Handlungsrichtungen entstehen können.
Dieser Blogpost ist Teil einer Serie über die RIFS-Konferenz 2025, "Tough Conversations in Tough Times" (Schwierige Gespräche in schwierigen Zeiten).
Die Session schuf Raum, um diese Dynamiken sichtbar zu machen und gemeinsam zu reflektieren. In einem World-Café-Format setzten sich die Teilnehmenden entlang der vier Perspektiven Sein, Denken, Tun und Erzählen transdisziplinärer Forschung auseinander, inspiriert durch das kommende „Handbook on Transdisciplinary Sustainability Research: Co-Creating New Narratives“. Der Wechsel zwischen diesen Dimensionen ermöglichte es, alltägliche ethische und politische Dilemmata, Grenzarbeit und neue Entwicklungsmöglichkeiten für das Feld zu artikulieren. Aufbauend auf diesen kollektiven Reflexionen laden wir zu Beiträgen ein und schlagen das Handbuch als gemeinsame Plattform vor, um oft unausgesprochene Dimensionen transdisziplinärer Forschung sichtbar zu machen und neue Narrative für Nachhaltigkeitsforschung in Krisenzeiten gemeinsam zu entwickeln.
Transdisziplinär sein: Identität, Sinn und Fürsorge
Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung ist zutiefst persönliche Arbeit. Sie bedeutet, unterschiedliche Rollen einzunehmen und zwischen ihnen zu wechseln – etwa zwischen Wissenschaftler*in, Facilitator*in, Lernender Person oder Vermittler*in – und dabei kontinuierlich Werte, Erwartungen und Verantwortlichkeiten in sich wandelnden institutionellen Kontexten auszuhandeln. Teilnehmende unseres Workshops berichteten von Momenten, in denen diese Arbeit besonders sinnstiftend war, etwa wenn neue gemeinsame Sprachen entstanden oder Projekte unerwartete Räume für Fürsorge, Anerkennung und Verbindung eröffneten. Gleichzeitig wurde auch die Erschöpfung thematisiert, die mit emotionaler und ethischer Arbeit einhergeht und in wissenschaftlichen Diskursen häufig unsichtbar bleibt.
Die Diskussionen am Sein-Tisch machten die Fluidität wissenschaftlicher Identitäten deutlich. Reflexionen kreisten um Positionierung, Intuition sowie um das Spannungsfeld zwischen Ehrgeiz und Bescheidenheit. Transdisziplinarität wurde als Arbeiten mit „unscharfen Rändern“ beschrieben, in dem Vertrauen, sowohl praktiziert als auch verkörpert, die grundlegende Basis für die Zusammenarbeit über Unterschiede hinweg bildet.
Ein wiederkehrendes Thema waren Grenzen und Selbstfürsorge, einschließlich der Notwendigkeit, bewusst Grenzen zu setzen. Damit wurde die oft unausgesprochene emotionale Arbeit transdisziplinärer Forschung sichtbar. Die Metaphern von Footprint, Handprint und Heartprint verdeutlichen, dass Forschende Spuren nicht nur durch Publikationen oder Politikberatung hinterlassen, sondern auch durch Beziehungen, Prozesse und die Räume, die sie selbst mitgestalten. Eine persistente Frage unterlegt viele Gespräche über transdisziplinäre Forschung: Warum tun wir diese Arbeit? In institutionellen Kontexten, die stark auf Outputs, Exzellenz und Wettbewerb ausgerichtet sind, kann diese Frage leicht verloren gehen oder in den Hintergrund treten.
Transdisziplinär denken: Epistemologien, Macht und Sinnstiftung
Die Perspektive des Denkens richtete den Blick auf die epistemischen Grundlagen transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung: darauf, wie Komplexität verstanden wird, welche Wissensformen anerkannt werden und wessen Perspektiven Problemdefinitionen und Lösungsansätze prägen. Die Teilnehmenden betonten, dass transdisziplinäres Denken nicht nur eine analytische, sondern auch eine politische und relationale Aufgabe ist – die von der Auseinandersetzung mit interdisziplinären Dynamiken bis hin zu kritischen Fragen von Ein- und Ausschluss sowie den dafür erforderlichen Formen von Führung reicht.
Die Diskussionen offenbarten ein dichtes Geflecht aus Konzepten, Epistemologien, Ontologien, Paradigmen und Weltbildern, verwoben mit Praktiken der Reflexivität, Transparenz und kritischen Selbstreflexion. Hervorgehoben wurde die Notwendigkeit, verschiedene Spannungen produktiv auszuhalten: zwischen Systemdenken und Relationalität, zwischen Normativität und Werten sowie zwischen Komplexität und Macht. Einige Teilnehmende bezeichneten Wissenschaftlerinnen augenzwinkernd als „Nerds“ und stellten zugleich ernsthaft die Frage, ob Akademikerinnen ermutigt werden, diese Rolle auch einmal zu verlassen. Denken wurde sowohl als individueller als auch als kollektiver Prozess verstanden, der durch Lernstrukturen und Architekturen der Wissensproduktion geprägt ist – nicht nur durch Theorien und Frameworks.
Identifiziert wurden zentrale epistemische Spannungen, etwa der Umgang mit pluralen Wissensformen, das Austarieren von wissenschaftlicher Strenge und gesellschaftlicher Relevanz sowie die Aushandlung von Legitimität zwischen Wissenschaft und Politik. Während grundlegende transdisziplinäre Theorien weiterhin wichtig bleiben, plädierten viele für eine konzeptionelle Weiterentwicklung, die aktuellen politischen, ökologischen und institutionellen Bedingungen stärker Rechnung trägt. Transdisziplinär zu denken erfordert daher epistemische Demut, ein kritisches Bewusstsein für Machtverhältnisse in der Wissensproduktion und ein Verständnis von Theorie als lebendige Ressource, die sich mit Praxis und Kontext weiterentwickelt.
Transdisziplinär handeln: Praktiken, Spannungen und transformative Potenziale
Transdisziplinär zu forschen bedeutet, in umkämpften, unvorhersehbaren und relational dichten Kontexten zu arbeiten. Die World-Café-Gespräche machten sowohl praktische Herausforderungen als auch positive Bedingungen sichtbar. Obwohl konkrete Methoden wie Design Thinking oder experimentelle Ansätze diskutiert wurden, betonten die Teilnehmenden, dass transdisziplinäre Praxis weit mehr ist als Werkzeuge. Methoden prägen, wer ein- oder ausgeschlossen wird, und wirklich transdisziplinäre Arbeit wurde weniger von formalen Toolkits als von Zeit, Beziehungen und informellen Kontakten abhängig gesehen.
Die Teilnehmenden betonten die Bedeutung von „Zwischenräumen“: unstrukturierte Momente, Offenheit und informelle Begegnungen als zentrale Voraussetzungen für gelingende Zusammenarbeit. Praktische Unterstützungsstrukturen wie transdisziplinäre Schnittstellenmanagerinnen, intermediäre Rollen, Buddy-Systeme oder praxisorientiertes Lernen wurden als wichtige Brücken zwischen Disziplinen und gesellschaftlichen Akteurinnen hervorgehoben.
Die Gespräche führten schließlich zu grundlegenderen Fragen. Transdisziplinäres Handeln wurde nicht nur als aktives Tun beschrieben, sondern auch als „Nicht-Tun“ oder „Ent-Lernen“: das Verlernen disziplinärer Routinen und das Hinterfragen von Sozialisationsformen im Wissenschaftssystem, die Exzellenz, Neutralität und Wettbewerb oft über Fürsorge, Solidarität und Menschlichkeit stellen.
Abschließend diskutierten die Teilnehmenden kritisch akademische Strukturen, die transdisziplinäre Forschung erschweren. Macht und hegemoniale Normen wurden als prägend für das Mögliche identifiziert, wobei Institutionen sowohl als Einschränkungen als Orte von Sicherheit wirken. Transdisziplinär zu handeln bedeutet daher häufig, „Hacks“ zu finden: kleine Akte des Widerstands, kreative Umwege und informelle Strategien, die transdisziplinäre Arbeit innerhalb – und in Versuchen, das System zu transformieren – möglich machen.
Transdisziplinarität erzählen: Narrative, die Zukünfte prägen
Die Perspektive des Erzählens lud dazu ein, über die Geschichten nachzudenken, die transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung prägen – und über jene, die bislang fehlen. Die Teilnehmenden betonten, dass das Feld von Narrativen zusammengehalten wird: von Geschichten über Ursprünge und Wirkung, zunehmend aber auch von Erzählungen über Kämpfe, Fürsorge und Erneuerung. Viele dieser Geschichten bleiben unausgesprochen, insbesondere wenn sie dominante Erfolgsnarrative oder institutionelle Erwartungen infrage stellen.
Transdisziplinarität zu erzählen wurde daher nicht nur als beschreibende, sondern als zukunftsgestaltende Praxis verstanden. Narrative beeinflussen, was als legitim, förderwürdig und erhaltenswert gilt, und welche Erfahrungen unsichtbar bleiben. Sie erfordern kollektive Reflexion, Pluralität und Dialog über unterschiedliche Positionen hinweg.
Übergreifende Erkenntnisse: Grenzarbeit, Vertrauen und Kohärenz
Über alle World-Café-Gespräche hinweg verbanden mehrere integrative Themen das transdisziplinäre Sein, Denken und Tun. Sie zeigen, dass transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung zunehmend als Antwort auf politische, ökologische und gesellschaftliche Krisen herangezogen wird, dass jedoch eine gemeinsame Reflexion über die Narrative, mit denen das Feld seine Rolle, Verantwortung und Möglichkeiten erklärt, bislang begrenzt bleibt.
Grenzarbeit erwies sich als verbindendes Element: als konzeptionelle Grenzen im Denken, als Identitätsgrenzen im Sein und als praktische Schnittstellen im Tun. Statt Spannungen aufzulösen, betonten die Teilnehmenden die Bedeutung produktiver Mehrdeutigkeit und des Arbeitens an den Rändern.
Vertrauen war ein weiteres zentrales Thema – etwas, das verkörpert, kritisch reflektiert und aktiv gestaltet werden muss. Seine Präsenz in allen Dimensionen verdeutlicht, dass Vertrauen keine feste Voraussetzung ist, sondern eine fortlaufende und fragile Errungenschaft transdisziplinärer Arbeit.
Macht und Positionalität durchzogen die Diskussionen und prägten epistemische Rahmungen, wissenschaftliche Identitäten und kollaborative Praktiken. Die Teilnehmenden unterstrichen, dass Denken, Fühlen, Positionieren und Handeln in transdisziplinärer Forschung eng miteinander verwoben sind und nicht isoliert verstanden werden können. Reflexivität erwies sich daher als Schlüsselkompetenz – nicht nur methodisch, sondern auch narrativ, indem sie Annahmen, Werte und Ausschlüsse sichtbar macht.
Schließlich machte die Aufmerksamkeit für Räume und Infrastrukturen deutlich, dass Transdisziplinarität nicht abstrakt stattfindet. Lernarchitekturen (Denken), relationale Spuren wie Footprint, Handprint und Heartprint (Sein) sowie Labore oder andere „Container“ als Praxisorte (Tun) zeigen, dass transdisziplinäre Forschung auf bewusst gestaltete Räume angewiesen ist, die Komplexität, Unsicherheit und Differenz tragen können.
Insgesamt verweisen diese Erkenntnisse auf die Notwendigkeit einer stärkeren, kollektiven Reflexion über die Narrative, die transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung derzeit prägen – eine Reflexion, die wir mit dem „Handbook on Transdisciplinary Sustainability Research: Co-Creating New Narratives“ weiterführen möchten.
Call for Contributions
Handbook on Transdisciplinary Sustainability Research: Co-Creating New Narratives
(Edward Elgar Publishing)
Wir laden zu Beiträgen für ein kommendes Handbuch ein, das aktuelle Praktiken und neue Entwicklungen transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung sichtbar macht und zugleich neue Narrative für das Feld voranbringt. Während sich transdisziplinäre Forschung zunehmend etabliert, entwickelt sie sich weiter als Antwort auf sich vertiefende sozio-ökologische Krisen und gesellschaftliche Fragmentierung. Das Handbuch fragt dabei:
Welche Rolle spielt transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung heute – und wie kann sie auf eine generativere, inklusivere und transformativere Weise praktiziert werden?
Wir freuen uns über ehrliche, reflexive und kreative Beiträge, die sich mit gelebten Erfahrungen, Spannungen und Potenzialen transdisziplinärer Arbeit in unterschiedlichen Kontexten und Regionen auseinandersetzen. Beiträge können vielfältige Formen annehmen, darunter Essays, Reflexionen, Dialoge, Feldberichte, künstlerische Formate oder methodenzentrierte Narrative. Besonders willkommen sind Beiträge, die konventionelle akademische Formate hinterfragen und emotionale, ethische und politische Dimensionen transdisziplinärer Forschung sichtbar machen.
Wenn diese Idee bei Ihnen Anklang findet und Sie sich dazu inspiriert fühlen, ein Kapitel beizutragen, laden wir Sie herzlich ein, uns bis zum 31. Januar 2026 einen kurzen Vorschlag (ca. 250 Wörter) zukommen zu lassen an: td [at] uni-kassel [dot] de (td[at]uni-kassel[dot]de)
Einreichungsrichtlinien & Zeitplan
- Kapitel-Exposé (250 Wörter): 31. Januar 2025
- Einreichung an: td [at] uni-kassel [dot] de (td[at]uni-kassel[dot]de)
- Rückmeldung zur Annahme: März 2026
- Vollständige Kapitelentwürfe: November 2026
- Peer-Feedback & redaktionelle Begleitung: fortlaufend bis Anfang 2027
- Finale Kapitel: September 2027
(Zeitpläne können in Abstimmung mit dem Verlag angepasst werden.)
Herausgeber*innen
- Karoline Augenstein – Juniorprofessorin für Policy Analysis & Transformation, Universität Wuppertal / TransZent
- Philip Bernert – Wissenschaftlicher Mitarbeiter für transdisziplinäre und transformative Nachhaltigkeitsforschung, RIFS am GFZ
- Felix Beyers – Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu transformativen Räumen und Mindsets, RIFS am GFZ
- Viola Hakkarainen – Vertretungsprofessorin für Transdisziplinarität für Nachhaltigkeitstransformation, Leuphana Universität
- Andra-Ioana Horcea-Milcu – Professorin; ERC-Projektleiterin (Lever); Leitende Autorin im IPBES-Assessment zu Transformativem Wandel; Co-Direktorin, Kassel Institute for Sustainability
Wir freuen uns darauf, gemeinsam neue Narrative für die Zukunft transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung zu entwickeln.



