Forschungsinstitut für
Nachhaltigkeit | am GFZ

Amazonas-Maskulinität

The Amazon River
The Amazon River

Ein auffälliges Merkmal der heutigen rechtsextremen Politik ist ihre Fixierung auf Männlichkeit - und Brasiliens Bolsonaro ist da keine Ausnahme. Am 7. September 2022, während der Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Brasiliens, stand der damalige Präsident Jair Messias Bolsonaro (2019-2022) an der Seite seiner Frau und stimmte einen Sprechchor an, der von Tausenden seiner Anhänger mitgesungen wurde: "imbrochável, imbrochável, imbrochável...". Der Begriff "imbrochável", der sich einer Übersetzung widersetzt, kann mit „niemals schlaff“ wiedergegeben werden.  Mit anderen Worten: Bolsonaro und seine Anhänger stellen ihn als virilen, testosterongesteuerten Anführer dar, der im Bett nie versagt.


"Imbrochável" ist eines der drei Worte, die auf der Medaille des „Clube Bolsonaro“ eingraviert sind. In der Mitte ist der ehemalige Präsident mit strenger Miene und einem nach vorne gerichteten Zeigefinger abgebildet. Die beiden anderen Worte, die den Dreiklang vervollständigen, lauten „imorrível“ und „incomível“ – der „Spiegel“ übersetzte den Dreiklang treffend mit „„Er ist unsterblich, er kann immer, und er lässt sich nicht von hinten f…“. Als Geste der Freundschaft und Unterstützung hat Bolsonaro diese Medaille politischen Verbündeten überreicht – darunter dem argentinischen Präsidenten Javier Milei, dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dem brasilianischen Unternehmer und Influencer Pablo Marçal - und sie eingeladen, dem sogenannten „Clube Bolsonaro“ beizutreten. Auch Roberto Katsuda, ein Unternehmer für Bergbaumaschinen im Amazonasgebiet, wurde von Bolsonaro mit der Medaille ausgezeichnet . 
 

Die Medaille des "Clube Bolsonaro".
Die Medaille des "Clube Bolsonaro".

Am 6. Juli 2019 machte Bolsonaro während eines informellen Austauschs mit Journalisten und Anhängern außerhalb der offiziellen Residenz des Präsidenten eine Bemerkung, die in den Medien große Aufmerksamkeit erregte. Auf die Frage nach den internationalen Reaktionen auf die Abholzung des Amazonasgebiets antwortete er: "Brasilien ist eine Jungfrau, die jeder Perverse aus dem Ausland haben will. [...] Die Erste Welt will die Verwaltung dieses Gebietes übernehmen. Wollt ihr den Amazonas verlieren?"  . Diese Aussage lädt dazu ein, darüber nachzudenken, wie der Begriff der Männlichkeit auch auf den Amazonas projiziert werden kann - indem er ihn als ein Gebiet darstellt, das vor der Lust ausländischer Perverser geschützt werden muss und letztendlich von den Brasilianern besessen und genossen werden kann
Als Leitfaden für diese Überlegungen schlage ich den Begriff "Amazonas-Maskulinität" vor - ein Konzept, das von der "Petro-Maskulinität" inspiriert ist,  die von RIFS-Fellow Cara Daggett geprägt wurde. 
 

Eine kurze Geschichte der Kolonialisierung des Amazons im 20. Jahrhundert

Die Natur wird oft auf zwei gegensätzliche Arten dargestellt: als gütig - Mutter Erde, die ihre Geschöpfe nährt und alles Leben erhält - oder als wilde, tückische und stürmische Kraft. Seit Jahrhunderten wird der Amazonas als letzteres dargestellt, als eine „grüne Hölle“, die sich der Erforschung und Kolonisierung widersetzt. Schon der Name „Amazonas“, der 1541 von dem spanischen Eroberer Francisco de Orellana geprägt wurde, vermittelt ausdrücklich diese Vorstellung: Die Amazonen sind Kriegerinnen aus der griechischen Mythologie, exotisch, feindselig gegenüber Männern und bereit zu kämpfen. Dass der Amazonas eben diese Vorstellung von „wilder Natur“ hervorruft, ist eine plausible Erklärung dafür, warum der Name „Amazonas“ zur Bezeichnung der gesamten Region wurde und warum er sich im Laufe der Zeit gehalten hat. 

Mit dem Aufstieg des Kapitalismus und dem Optimismus der technisch-wissenschaftlichen Rationalität in der Moderne wurde die Mission, die „wilde“ Natur zu „beherrschen“ und sie „wohlwollend“ zu machen, zu einem zivilisatorischen Ziel - ein Telos, das die Menschheit zu Fortschritt und Entwicklung führt. Diese Transformation sollte vom modernen Menschen – und dies hieß in erster Linie: vom modernen Mann – angeführt werden. Dieser wurde als rational (im Gegensatz zur traditionell gefühlsbetonten Darstellung der Frau) und als Werkzeug herstellendes Tier wahrgenommen. Dies markiert den Triumph des Homo faber, bei dem die instrumentelle Vernunft die Menschheit in die Lage versetzt, natürliche Barrieren zu überwinden, die zuvor unüberwindbar waren, und die menschliche Macht zu vergrößern, die zuvor unvorstellbar war. So kristallisiert sich eine neue Art von überlegener Autorität des Menschen über die Natur heraus, die eng mit einer anderen Matrix der Autorität verbunden ist: dem globalen Norden über den globalen Süden und den Weißen über die Indigenen und Schwarzen.

Das Verständnis der Geschichte der Kolonisierung des Amazonas im 20. Jahrhundert kann uns helfen zu verstehen, wie die Beziehung zwischen Mensch bzw. Mann (das portugiesische Wort „homem“ hat beide Bedeutungen, ist jedoch im folgenden Kontext männlich konnotiert) mit Attributen einer besitzergreifenden und „überlegenen“ Männlichkeit durchdrungen ist.

In den 1940er Jahren, unter Präsident und Diktator Getúlio Vargas (1937-1945), betonte die Politik des „Marsches nach Westen“ die Integration des Amazonas in die nationale Wirtschaft. In seiner „Amazonas-Rede“ von 1940 erklärte Vargas: „Die höchste Aufgabe des zivilisierten Menschen: die Täler der großen äquatorialen Ströme zu erobern und zu beherrschen, ihre blinde Kraft und außerordentliche Fruchtbarkeit in disziplinierte Energie zu verwandeln. Unter dem fruchtbaren Impuls unseres Willens und unserer Arbeit wird der Amazonas schließlich aufhören, nur ein Kapitel in der Geschichte der Erde zu sein, und [...] zu einem Kapitel in der Geschichte der Zivilisation werden“  . Mit anderen Worten, der Amazonas wird als blinde und fruchtbare Kraft dargestellt, die in der Zeit eingefroren ist, als warte sie auf die Ankunft des zivilisierten Mannes, der sie durch seinen Willen und seine Arbeit erobern, disziplinieren und in das Reich der Zivilisation und des Fortschritts führen wird.

Unter der Militärdiktatur (1964-1985) wurde 1970 im Rahmen der „Nationalen Integrationspolitik“ mit dem Bau der Transamazonas-Autobahn (BR - 230) begonnen, die sich über 4.400 Kilometer von der Atlantikküste bis ins Herz des Waldes erstreckt. Nach den Worten des Präsidenten und Diktators Emilio Garrastazu Médici (1969 - 1974) sollte die Autobahn „die Besiedlung und Erschließung des Amazonasgebietes erleichtern - ein Gebot des Fortschritts und der Verpflichtung Brasiliens gegenüber seiner eigenen Geschichte“.  Eine 1974 enthüllte Gedenktafel erklärte
„[Die Transamazonas-Autobahn ist...] eine Demonstration des Willens des brasilianischen Volkes, dieses riesige grüne Gebiet zu erobern und eine große und starke Nation aufzubauen."  

Diese Ideen der „Eroberung“ und des Aufbaus einer „starken Nation“ spielen auch in den Zeitschriften dieser Zeit eine wichtige Rolle, wie das Archiv von Ricardo Cardim zeigt.  Auf dem Titelblatt der Revista Manchete von 1972 ist zu lesen: „Hier haben wir den Wald erobert“, und die Revista Veja von 1982 titelt: „Der Kampf gegen den Dschungel“. Das Titelblatt der Zeitschrift O Cruzeiro, ebenfalls aus dem Jahr 1972, zeigt ein Bild der „Miss Transamazônica“, um junge Arbeiter für die Kolonisierung des Amazonasgebiets zu gewinnen, indem es die Präsenz schöner Frauen in der Region präsentiert - was uns zum Nachdenken darüber anregt, wie die Objektivierung von Frauen mit der Objektivierung der Natur einhergeht.
 

Auf dem Weg zu einem neuen Imaginären

Der Begriff "Amazonas-Maskulinität" hilft uns, über die Beziehung zwischen Mensch und Natur nachzudenken - und darüber, wie diese Beziehung von „positiven“ Vorstellungen von Männlichkeit geprägt ist: Stärke, Dominanz, Aggressivität, Intelligenz, Autorität, Glaubwürdigkeit, Höflichkeit, Virilität und Vitalität. Die Geschichte der Kolonisierung Amazoniens im 20. Jahrhundert beleuchtet die zerstörerische Dynamik zwischen Mensch und Natur und die Beherrschung durch eine besitzergreifende Form der Männlichkeit. Sie ist auch nützlich, um zu kritisieren, wie Jair Bolsonaro durch die Anprangerung der internationalen Gier auf das Amazonasgebiet - als „Jungfrau, die jeder Perverse aus dem Ausland will“ - diese Amazonas-Maskulinität in der Gegenwart wiederbelebt und bekräftigt.

Brasilien ist ein Land, in dem die Geschichte der Gewalt gegen Frauen, des Waldes und der Demokratie von tiefen Kontinuitäten geprägt ist. Um eine neue Geschichte zu schreiben, müssen neue Beziehungen und neue Vorstellungen geschaffen werden. In diesem Sinne ist es wichtig, das Imaginäre der Amazonas-Männlichkeit zu kritisieren, anzufechten zu überwinden. 
 

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