„Den Schmerz des anderen sehen“ – für ein neues Wir in der Nachhaltigkeitspolitik
11.12.2025
Wir alle haben ein Interesse daran, unseren Planeten zu schützen. Aber die Ungleichheit unserer Lebensverhältnisse macht es schwer, klassenübergreifende Allianzen für eine ambitionierte Nachhaltigkeitspolitik zu schmieden. In ihrer Keynote „Building 'We' in a Wounded World“ (In einer verwundeten Welt ein "Wir" aufbauen) bei der RIFS-Konferenz 2025 richtete Manisha Anantharaman (Sciences Po Paris) daher einen Appell an Forschende und Führungskräfte: Sie sollten von den Menschen lernen, die an vorderster Front gegen Umweltprobleme kämpfen, um politische Koalitionen zu bilden, die festgefahrene Machtstrukturen in Frage stellen.
Dieser Blogpost ist Teil einer Serie über die RIFS-Konferenz 2025, "Tough Conversations in Tough Times" (Schwierige Gespräche in schwierigen Zeiten).
Wir leben, sagte Anantharaman, in einer Welt, die geprägt ist von kolonialen Erfahrungen, Rassismus und Geschlechterungleichheit. Im Alltag sei allerdings selten sichtbar, wie sehr der Reichtum, der durch Enteignung angehäuft wurde, weiterhin Chancen strukturiert. „Stattdessen interpretieren die Menschen die enormen Unterschiede auf der Grundlage von Narrativen individueller Leistung.“ Das sei eine Fehlinterpretation, denn tatsächlich präge vor allem die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe unseren Platz in der Welt und unseren Zugang zu Nachhaltigkeitsfragen.
Eliten dominieren Diskurs
Dass jede Gruppe Umweltprobleme auf unterschiedliche Weise wahrnimmt, führe zu einer fragmentierten Politik, in der die Sichtweisen der Eliten dominieren. „Marginalisierte oder minorisierte Subjektivitäten werden beiseitegeschoben, und es wird für die Menschen sehr schwierig, über verschiedene soziale und politische Grenzen hinweg zusammenzukommen.“
Als Beispiel nannte Anantharaman die Diskussion über die Müllentsorgung in Indien. Dort erledigen Angehörige der untersten sozialen Schicht, der Kaste der Dalit, einen Großteil der Reinigungsarbeiten. In ihrer Feldforschung erlebte Anantharaman es dennoch oft, dass gerade die Dalit für das Vorhandensein von Müll verantwortlich gemacht wurden – einfach, weil sie in der Nähe der Müllkippen leben. „Man gab ihnen die Schuld und forderte sie auf, die Aufräumarbeiten zu erledigen, während sie gleichzeitig an den Rand der Umweltpolitik gedrängt wurden.“ Dies zeige, dass Mitglieder höherer Kasten „Umweltbewusstsein“ als Vorwand nutzen, um strenge moralische Urteile zu fällen.
Medien
Building "We" in a Wounded World: Cross-Class Alliances and the Challenge of Enviromental Justice. Keynote by Manisha Anantharaman
Mangelnde Wertschätzung prägt Identität
Schlechte Arbeitsbedingungen beschränkten sich jedoch nicht auf Indien oder den Globalen Süden, sondern seien weltweit verbreitet. „Sie sind mit Uber, mit der Flexibilisierung und mit Gig-Arbeit nach Europa gekommen. Die Entwertung der Arbeit hat sich demokratisiert.“ Die Menschen, die diese schmutzigen oder gefährlichen Arbeiten erledigen, würden als dafür geeignet angesehen, häufig aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Kastenzugehörigkeit oder ihres Migrantenstatus.
Diese Abwertung präge ihre Identitäten und sei auch politisch problematisch. Denn sie hindere die Menschen daran, die Art von Solidarität aufzubauen, die erforderlich ist, um den Interessen der Elite entgegenzutreten. Unglücklicherweise sei gerade der Konsum, der die planetaren Ressourcen stark belastet, ein Mittel, um Ansehen und soziale Zugehörigkeit zu erlangen.
Marginalisierte Gruppen ins Zentrum
Statt die Ungleichheit und die daraus resultierende Vielfalt der Erfahrungen und Perspektiven anzuerkennen, konstruiere die „Führungsklasse der Nachhaltigkeit“ ein Wir, das es so gar nicht gebe, sagte Anantharaman. Die wichtigste Aufgabe sei es nun, sich weniger auf die eigene Sichtweise zu fokussieren und von den Menschen zu lernen, die viel stärker unter den Folgen unserer kapitalistischen Wirtschaftsweise und unserer Umweltzerstörung leiden. „Letztendlich erfordert der Wiederaufbau eines ‚Wir‘ in dieser verwundeten Welt, dass wir die Geschichte anerkennen, den Schmerz des anderen sehen und als legitim anerkennen.“
Wenn es marginalisierten Gruppen gelinge, ihre Standpunkte in den Nachhaltigkeitsdiskurs einzubringen, würden Umweltprobleme neu definiert und Fehleinschätzungen der Eliten in Frage gestellt. Dies sei in den Verhandlungen über ein globales Plastikabkommen deutlich geworden, die im August 2025 vorerst scheiterten. „Dass wir nicht einen schlechten Kompromissvertrag haben, der den Status quo der Kunststoffproduktion und die politische Macht der petrochemischen und fossilen Brennstoffindustrie grundlegend zementiert hätte, ist den Koalitionen zu verdanken, die zwischen Müllarbeitern, indigenen Völkern, Wissenschaftlern und anderen Gruppen gebildet wurden, die in der Umweltpolitik historisch marginalisiert wurden.“
Nach diesem Vorbild, so Anantharaman, sollten wir gemeinsam nach einer besseren Art zu leben suchen und dadurch eine Gegenmacht zu den Verteidigern des aktuellen Status quo bilden.
