Forschungsinstitut für
Nachhaltigkeit | am GFZ

Transformative Arktisforschung: Erkenntnisse aus ko-kreativen und gemeinschaftsorientierten Kooperationen

19.11.2025

Evie Morin

evie [dot] morin [at] rifs-potsdam [dot] de

Dr. Ilaria Sartini

ilaria [dot] sartini [at] rifs-potsdam [dot] de
Forschung anders zu betreiben bedeutet, zuerst zuzuhören, Macht neu zu verteilen und Beziehungen aufrechtzuerhalten, auch wenn die Systeme um uns herum dies erschweren.
Forschung anders zu betreiben bedeutet, zuerst zuzuhören, Macht neu zu verteilen und Beziehungen aufrechtzuerhalten, auch wenn die Systeme um uns herum dies erschweren.

Am 14. Oktober untersuchte die RIFS-Forschungsgruppe „Arktisforschung neuDENKEN: Beziehungen, Ethik, und Methoden“ bei einem internen Workshop, wie koloniale Strukturen, die in Forschungssystemen verankert sind, Praktiken und Wahrnehmungen prägen. Zudem ging es darum, Wege zur Dekolonialisierung von Forschungsmethoden, Wissen und Governance-Strukturen in der Arktis zu identifizieren. Der Workshop brachte Forschende zusammen, die an ko-kreativen und gemeinschaftsorientierten Projekten in Kalaallit Nunaat, Sápmi, Nunavut und Nunavik beteiligt sind, darunter auch die Gastforscherin Catherine Dussault von der Universität Ottawa. Professor Dussault arbeitet an Projekten zu gemeinschaftsorientierter Governance, Forschungsethik und Dekolonisierung, wobei ihr Schwerpunkt auf der Selbstbestimmung der indigenen Bevölkerung in Nunavik liegt. Im Mittelpunkt ihrer Forschungspraxis stehen das Wissen, die Prioritäten und die Entscheidungsfindung der Inuit, damit die Forschung die lokalen Ziele wirksam unterstützen kann und die Forschungsgovernance bei den Inuit verbleibt.

Wir diskutierten drei Hauptfragen: 

  1. Wie beeinflusst die Arbeit innerhalb von Forschungssystemen unsere Praktiken, Methoden und Entscheidungsfindung, und welche kolonialen Logiken werden dabei reproduziert?
  2. Wie können wir in der Praxis Unterschiede erkennen und respektieren, ohne sie zu übernehmen oder zu verändern?
  3. Welche Ansätze oder Methoden ermöglichen eine transformative und dekoloniale Forschung innerhalb dieser institutionellen Beschränkungen?

Diese Fragen ermöglichten sinnvolle und ehrliche Gespräche über die Herausforderungen und Motivationen, denen dekoloniale Forschende im Forschungsprozess gegenüberstehen, vom Verfassen eines Projektantrags bis hin zur Weitergabe der Ergebnisse an die betroffenen Gemeinschaften. 

„Nicht alle Formen des Wissens werden gleichermaßen anerkannt, und transformative Forschung muss dies anerkennen und die Forschung auf neuen Grundlagen aufbauen.“ – Catherine Dussault

Transformation kolonialer Logiken: Beispiele aus Nunavik

Nunavik ist die Heimat der Inuit im Norden Quebecs. Ein Großteil der heutigen Forschung in Nunavik basiert auf einem Erbe ungleicher Machtverhältnisse, in denen Forschende aus anderen Regionen Daten gesammelt haben, die für die lokalen Gemeinschaften nur von begrenztem Nutzen waren. Allzu oft wurden Daten falsch interpretiert, Ergebnisse nicht weitergegeben, Zustimmungsprozesse missachtet und Entscheidungen ohne ausreichendes Verständnis des Kontexts getroffen. Als Palimpsest dieser kolonialen Logik reproduziert die heutige Wissenschaft weiterhin epistemische Hierarchien, die nicht alle Arten von Wissen gleichwertig behandeln.

Catherine Dussault stellte mehrere Beispiele für aktuelle Bemühungen in Nunavik vor, die darauf abzielen, solche Forschungspraktiken zu verändern. Atanniuvik beispielsweise ist eine Organisation für Forschungsgovernance, die die Forschung in Nunavik so managt und überwacht, dass die Selbstbestimmung der Inuit gefördert wird. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Art und Weise zu ändern, wie Forschung genehmigt, durchgeführt und geteilt wird, damit die Gemeinden direkt davon profitieren und die Kontrolle über die Ergebnisse behalten. NORDvik (Nunavik’s Own Research Database) ist eine Gemeinschaftsdatenbank und ein Online-Portal, das von Atanniuvik mit Unterstützung von Teams der University of Ottawa, der Université Laval, der Carleton University und der Cornell University entwickelt wird. NORDvik wird die Forschung für alle zugänglich machen, auch für die Nunavimmiut (Inuit von Nunavik). „Vik” steht in Inuktitut für Ort und Zeit, und das Projekt konzentriert sich auf die Prioritäten und die Governance der Gemeinschaft als langfristig nachhaltig.

Dennoch sind in Nunavik und anderen Regionen der Arktis weitere Veränderungen erforderlich, um transformative, von der lokalen Gemeinschaft geleitete Forschung zu etablieren: Forschung, die darauf abzielt, koloniale Dynamiken umzukehren, indem sie Vertrauensbeziehungen aufbaut, die auf Verantwortlichkeit und historischem Bewusstsein aller Partner basieren. Diese Veränderung der Perspektive und der Vorgehensweise ermöglicht es der Forschung, lokale Prioritäten zu unterstützen, Kapazitäten aufzubauen und indigene Wissenssysteme und Regierungsführung zu respektieren und in den Mittelpunkt zu stellen.

„Dekolonisierung beginnt mit dem Aufbau von Beziehungen: zu dem Land, auf dem wir stehen, und zu den indigenen Völkern, die die Hüter dieses Landes sind. Sie bedeutet auch, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, um Zerstörung, Enteignung und Aneignung hinter sich zu lassen.“ – Catherine Dussault

Positionalität, Relationalität und Verantwortung

Aber wie kann diese Transformation innerhalb der kolonialen Institutionen selbst Fuß fassen? Die Gruppe diskutierte, dass ein erster und grundlegender Schritt darin besteht, die eigene Position zu erkennen und anzuerkennen. Das bedeutet auch, die angebliche Neutralität des Forschers in Frage zu stellen: Wir sind Menschen und bringen als solche Weltanschauungen, Werte und Ideen in unsere Forschung ein. Anstatt sich hinter dem Konzept der Neutralität zu verstecken, ist dessen Anerkennung der Beginn des Aufbaus respektvoller Beziehungen. Wie Catherine Dussault feststellte: „Allein das Sprechen von hegemonialer Forschung bewirkt noch nicht, dass man außerhalb der Institutionen steht.“ Die Absichten der Forschenden sind wichtig, aber ebenso wichtig sind die institutionellen Modalitäten, durch die diese Absichten umgesetzt werden. Darüber hinaus prägt die Tatsache, dass Forschungsbeziehungen grundlegend menschlich sind, die Art und Weise, wie Wissen produziert und geteilt wird.

Reflexionen über Methoden und Ansätze

Der Erfahrungsaustausch unterstrich die Erkenntnis, dass transformative Forschung nicht nur von guten Absichten abhängt, sondern auch von Verantwortung, historischem Bewusstsein und langfristigem Beziehungsengagement. Sinnvolle Veränderungen sind in allen Phasen des Forschungszyklus erforderlich, über die üblichen Projektzeitpläne hinaus. Einige Methoden und Ansätze, die wir zur Unterstützung dieser Ziele diskutiert haben, sind:

  • Anerkennung des Wissens indigener Völker als ebenso wertvoll und würdig wie dominante Wissenssysteme;
  • Von Anfang an informierte Einwilligung und Datenhoheit praktizieren;
  • Vereinbarungen treffen, die die Kontrolle der Gemeinschaft über Forschungsergebnisse und den Zugang dazu gewährleisten;
  • Investition in den gegenseitigen Kapazitätsaustausch durch Schulungen, Einstellung lokaler Mitarbeitender, Einbindung von Jugendlichen und gemeinsame Governance;
  • Schaffung sinnvoller und offener Räume für ehrliche und gemeinschaftliche Reflexionen;
  • Sich zu langfristigen Beziehungen statt zu kurzfristigen Besuchen vor Ort verpflichten.

Finanzierungsmechanismen spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung dieser Veränderungen. Dazu gehören beispielsweise die Einbeziehung von Haushaltslinien für eine faire Vergütung aller Partner und Teilnehmer sowie die Zuweisung von ausreichend Zeit für den Austausch, um Beziehungen und gegenseitiges Verständnis zu stärken. Letztendlich sollte die Finanzierung neu gestaltet werden, um nachhaltige Forschungsbeziehungen und nicht nur einzelne Projekte zu unterstützen.

Freude auf zukünftige Kooperationen

Der Workshop betonte, dass Dekolonialisierung ein Prozess ist, der mit der Anerkennung der Geschichte, der Einbeziehung indigener Stimmen und dem Aufbau nachhaltiger Beziehungen beginnt. Die Forschungsgruppe reIMAGINE Arctic dankt Professorin Catherine Dussault für ihre Teilnahme an der Veranstaltung in Potsdam, bei der sie ihre Erfahrungen und Erkenntnisse mit uns geteilt hat. Wir freuen uns darauf, gemeinsam weiter zu lernen, während wir auf dekolonialere und gerechtere Forschungspraktiken in der Arktis hinarbeiten.

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