Forschungsinstitut für
Nachhaltigkeit | am GFZ

1,5-Grad-Lebensstile erreichen: Warum systematische Veränderungen mit individuellen Maßnahmen einhergehen müssen

09.05.2025

Doris Fuchs Leitungsteam RIFS

Prof. Dr. Doris Fuchs

doris [dot] fuchs [at] rifs-potsdam [dot] de
Halliki Kreinin

Dr. Halliki Kreinin

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Lea Melissa Becker

Lea Melissa Becker

lea [dot] becker [at] rifs-potsdam [dot] de
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Das EU 1.5° Lifestyles Konsortium an der Universität Lund bei SCORAI 2025 im April 2025

Im Wettlauf um die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C ist ein entscheidendes Element weitgehend unberücksichtigt geblieben: unser Lebensstil. Während erneuerbare Energien, Elektrofahrzeuge und grüne Technologien die klimapolitischen Schlagzeilen beherrschen, spielt die grundlegende Art und Weise, wie wir leben – was wir essen, wie wir reisen, wie groß unsere Wohnungen sind, wie oft wir fliegen – eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung unseres kollektiven CO2-Fußabdrucks.

Dies war der Ausgangspunkt für das EU-Projekt „1,5° Lifestyles“: ein vierjähriges „Horizon 2020“-Projekt, das nicht nur die Lebensstile ermitteln soll, die am besten mit den Klimazielen vereinbar sind, sondern auch die strukturellen Veränderungen und gesellschaftlichen Bedingungen, die erforderlich sind, um diese Entscheidungen durchführbar, attraktiv und gerecht zu gestalten.

Warum sollten wir uns auf Lebensstile konzentrieren?

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind unbestreitbar. Dem IPCC zufolge könnten diese Veränderungen bis 2050 zu einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um 40-70 % führen, wenn die richtigen politischen Maßnahmen, Infrastrukturen und Technologien zur Unterstützung der veränderten Lebensweise vorhanden sind. Dies ist eine beachtliche Zahl, vor allem wenn man bedenkt, dass sich ein Großteil des derzeitigen Klimadiskurses immer noch auf die Dekarbonisierung der Produktion konzentriert, anstatt den Konsum zu überdenken.

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Wie der Ko-Vorsitzende der IPCC-Arbeitsgruppe III, Priyadarshi Shukla, betonte:

„Mit den richtigen politischen Maßnahmen, Infrastrukturen und Technologien, die eine Änderung unseres Lebensstils und Verhaltens ermöglichen, können die Treibhausgasemissionen bis 2050 um 40-70 % gesenkt werden. Dies stellt ein erhebliches ungenutztes Potenzial dar“ (UNFCCC, 2022) [Übers. d. Verf.].

Mit anderen Worten: Die Menschen sind wichtig – nicht nur als Wähler*innen und Verbraucher*innen, sondern als Akteure des Wandels. Wir können jedoch nicht erwarten, dass sich einzelne Personen in einem Vakuum ändern. Verhaltensänderungen müssen mit systemischen Veränderungen einhergehen. Mit diesem Ansatz geht das EU-Projekt „1.5° Lifestyles“ neue Wege.

Was ist das EU 1,5° Lebensstile Projekt?

Unser Ziel war es, 1,5°C-kompatible Lebensstile in ganz Europa zu etablieren. Das Projekt umfasste neun Partner in sieben Ländern und konzentrierte sich auf fünf nationale Fallstudien. Wir verwendeten eine Kombination aus quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden, um zu untersuchen, was möglich und akzeptabel ist. Dazu gehörten Input-Output-Analysen, Literaturrecherchen, Expert*inneninterviews, Denkwerkstätten für Bürger*innen und Interessenvertreter*innen, spielerische Instrumente wie Klimarätsel und strukturierte Feedback-Mechanismen.

Wir haben 50 Optionen für den Lebensstil in vier Schlüsselbereichen ermittelt, darunter „Wohnen“ (z.B. energieeffizientes Heizen und kleinere Wohnungen), „Ernährung“ (z.B. pflanzliche Ernährung), „Mobilität“ (z.B. Auto- und Flugreisen) und „Freizeit“ (z.B. weniger Flugreisen, weniger Konsum). Jeder dieser Bereiche wurde auf sein Potenzial zur Emissionsreduzierung untersucht. Zudem wurden die strukturellen und sozialen Faktoren betrachtet, die beeinflussen, ob Menschen diese Maßnahmen umsetzen können.

Die Grenzen von Technologie und Wachstum

Eine unserer wichtigsten Erkenntnisse stammt aus der Modellierungsphase des Projekts. Selbst unter den optimistischsten Annahmen – einer raschen technologischen Innovation und eines anhaltenden Wirtschaftswachstums – haben wir festgestellt, dass dies allein nicht ausreicht, um die zur Einhaltung der 1,5°C-Grenze erforderlichen Emissionsreduzierungen zu erreichen.

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Mit anderen Worten: Wenn wir den Verbrauch und die Energienutzung weiterhin in dem derzeitigen Tempo steigern – selbst mit saubereren Technologien – werden wir unsere Klimaziele verfehlen.

Diese Erkenntnis stellt eine Kernannahme der gängigen Klimapolitik in Frage: dass wir unseren Weg zur Nachhaltigkeit „grün“ gestalten können, ohne das Streben nach Wirtschaftswachstum grundlegend zu gefährden. Unsere Forschung zeigt das Gegenteil. Sie zeigt, dass ein ernsthaftes Gespräch über Suffizienz und alternative Wirtschaftsmodelle nicht mehr optional, sondern unerlässlich ist.

Wenn wir nicht betrachten, wie viel wir konsumieren und wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist, riskieren wir eine Zukunft mit zunehmend schweren Klimaauswirkungen.

Was muss sich also ändern?

Unsere Ergebnisse führten uns zu einer Reihe von Schlüsselempfehlungen, sowohl auf individueller als auch auf systemischer Ebene. Wir müssen den Menschen helfen, ihre Umweltauswirkungen in den folgenden Bereichen zu verringern:

  • Mobilität: Verringerung der Abhängigkeit vom Auto, insbesondere von fossil betriebenen Fahrzeugen, durch Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel und begehbare Städte.
  • Ernährung: Umstellung auf eine pflanzliche Ernährung, unterstützt durch Sensibilisierungskampagnen, Anreize und Reformen des Lebensmittelsystems.
  • Wohnen: Förderung erneuerbarer Heizsysteme und kleinerer Wohnungen, unterstützt durch eine erschwingliche, nachhaltige Wohnungsinfrastruktur.
  • Freizeit: Verringerung der Emissionen aus dem Reiseverkehr – insbesondere aus dem Flugverkehr – und Förderung einer kohlenstoffarmen Freizeitgestaltung.

Diese Veränderungen lassen sich nicht allein durch moralische Appelle herbeiführen. Sie erfordern eine Infrastruktur, politische Maßnahmen und soziale Normen, die eine nachhaltige Entscheidung einfach, erschwinglich und wünschenswert machen.

Was ist mit Rebound-Effekten?

Ein versteckter Fallstrick bei Effizienzgewinnen ist der Rebound-Effekt, bei dem Geld, das durch ein kohlenstoffarmes Verhalten eingespart wird, für kohlenstoffintensive Aktivitäten an anderer Stelle ausgegeben wird (z. B. wenn die Einsparungen durch weniger Autofahrten dazu genutzt werden, einen Billigflug zu buchen). Um dies zu verhindern, müssen wir (1) gemeinschaftsbasierte Lösungen fördern, die gemeinsame Werte und gegenseitige Unterstützung begünstigen; (2) die Märkte regulieren, um nachhaltige Entscheidungen leichter zugänglich und zum Standard zu machen; (3) ethische Finanzpraktiken fördern – Investitionen in Nachhaltigkeit statt in übermäßigen Konsum; und (4) die Werbung für kohlenstoffintensive Lebensstile einschränken, die unnötige Wünsche und Konsum schüren.

Individuelles Handeln kann ohne strukturellen Wandel nicht gelingen

  1. Dies bedeutet, dass wir das Wirtschaftswachstum grundlegend überdenken und einen differenzierten Ansatz verfolgen müssen: Welche Wirtschaftssektoren müssen wachsen (z.B. erneuerbare Energien) und welche müssen im Sinne eines Suffizienzgedankens, der auf die langfristige gesellschaftliche und materielle Sicherheit der Bürger*innen abzielt, schrumpfen (z.B. Fossile Autoindustrie).
  2. Wir müssen auch die demokratischen Prozesse stärken, um ein Gegengewicht zum Einfluss von Einzelinteressen zu schaffen und die Bürger*innen nicht nur als Verbraucher*innen, sondern als Mitgestaltende der Politik zu ermächtigen.
  3. Die Verantwortlichen müssen sich auf die Umsetzung langfristiger und kohärenter, planbarer Maßnahmen konzentrieren, die Klarheit, Fairness und einen gemeinsamen Zukunftshorizont bieten.
  4. Ökosoziale Gerechtigkeit muss im Mittelpunkt der Umwelt- und Sozialpolitik stehen. Ein wiederkehrendes Thema in unserer Arbeit ist, dass Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit Hand in Hand gehen müssen. Nachhaltige Übergänge werden nur gelingen, wenn sie fair, inklusiv und demokratisch begründet sind. Dies ist notwendig, um eine gerechte Verteilung der Verantwortung auf der Grundlage von Macht, Ressourcen und Kapazitäten zu gewährleisten. Ökosoziale Grundsätze müssen in den Mittelpunkt von Politik, Kommunikation und Alltagspraxis gestellt werden.
  5. Damit dies möglich ist, müssen wir breite Koalitionen für den Wandel bilden – über Gemeinschaften, Sektoren und Generationen hinweg. Solche Koalitionen sind herausfordernd, denn: je breiter eine Gemeinschaft, desto vielfältiger ist ihre Zusammensetzung. Der Weg nach vorne führt über die Zusammenarbeit bei lokalen Themen, die die Menschen betreffen.

Gemeinsame Verantwortung

Der bevorstehende Weg beruht auf gemeinsamer Verantwortung und kollektivem Handeln. Es ist klar, dass nicht nur technologische Herausforderungen bestehen, sondern auch kulturelle, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen. Unsere derzeitigen Systeme fördern den übermäßigen Konsum und verstärken die Ungleichheit. Für eine 1,5°C-kompatible Zukunft müssen wir unseren Wohlstand neu definieren und Gesellschaften aufbauen, in denen das Wohlergehen vom endlosen materiellen Wachstum entkoppelt ist.

Entscheidend ist, dass die Verantwortung geteilt werden muss, aber nicht von allen in gleichem Maße. Diejenigen, die über mehr Macht, Wohlstand und Einfluss verfügen, müssen vorangehen – und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass andere folgen. Bürger*innen, Gemeinschaften, Unternehmen und Regierungen sind wichtige Akteure, aber ihre Rollen unterscheiden sich je nach Zugang zu Ressourcen und Entscheidungsbefugnissen.

Feedback zu unseren Ergebnissen aus den Workshops mit Politiker*innen und Interessenvertreter*innen

Wir haben die Ergebnisse unserer Forschung an politische Entscheidungsträger*innen und Interessenvertreter*innen in den verschiedenen Partnerländern sowie auf EU-Ebene weitergeleitet. Gemeinsam haben wir über die wichtigsten Strategien nachgedacht, um einen Wandel herbeizuführen:

  1. Nachhaltige Lebensstilentscheidungen sollten durch Anreize, faire Preise und systemische Unterstützung leicht gemacht werden, damit sie zur Standardoption werden.
  2. Wir brauchen starke, positive und befähigende Erzählungen, die die Bürger*innen einbeziehen und Nachhaltigkeitskonzepte an die lokalen Gegebenheiten anpassen und gleichzeitig Fehlinformationen entgegenwirken. Insbesondere sollten Klimamaßnahmen neu gestaltet werden, wobei der Schwerpunkt auf Fairness, Wohlbefinden und Zusatznutzen liegen sollte (z.B. im Hinblick auf die Gesundheit), um das Engagement zu fördern.
  3. Die Stärkung lokaler Maßnahmen ist entscheidend für den Wandel. Es gibt viele starke, von der Gemeinschaft getragene Initiativen und Lösungen, die angemessene finanzielle und organisatorische Unterstützung benötigen.
  4. Insbesondere die Wirtschaftsstrukturen müssen tiefgreifend umgestaltet werden: Die Abschaffung schädlicher Subventionen, die Einbeziehung des Wohlstands über das BIP hinaus, die Berücksichtigung von Umweltkosten und die Regulierung des Einflusses von Unternehmen sind unerlässlich, um eine lebenswerte Zukunft für alle zu erreichen.

Wie geht es jetzt weiter?

Die letzten vier Jahre waren eine unglaublich intensive, aber auch spannende und bewegende Erfahrung. Wenn Sie an einem unserer Workshops, Thinking Labs, Webinare oder Präsentationen teilgenommen haben oder uns einfach nur online verfolgt haben, danken wir Ihnen für Ihre Unterstützung und Mitarbeit.
Mit Blick auf die Zukunft hoffen wir, dass die Ergebnisse des EU-Projekts „1,5° Lifestyles“ nicht nur zu einer besseren Politik führen werden, sondern auch einen breiteren kulturellen Wandel hin zu einem lebenswerten, gerechten und klimafreundlichen Lebensstil anregen.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in englischer Sprache im 1.5°-Projekt-Blog [https://onepointfivelifestyles.eu/blog/achieving-15degc-lifestyles-why-systemic-change-must-accompany-individual-action] erschienen.


Literaturverzeichnis

UNFCCC (2022). The Evidence Is Clear: The Time for Action Is Now. We Can Halve Emissions by 2030. 

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