Headline: Konkrete Utopien und Protest in Extraktivismusregionen

Aktivistinnen und Aktivisten aus Deutschland und Südamerika tauschten sich am IASS über ihre Erfahrungen beim Protest gegen die Nutzung fossiler Energieträger aus.
Aktivistinnen und Aktivisten aus Deutschland und Südamerika tauschten sich am IASS über ihre Erfahrungen beim Protest gegen die Nutzung fossiler Energieträger aus. IASS/David Löw Beer

IASS Potsdam, Berliner Straße 130, 14467 Potsdam, Germany

Überblick

Exkursion in die Braunkohleregion Lausitz; Workshops und öffentliche Abendveranstaltung (Vorträge und Diskussion) mit Aktivist*innen aus Deutschland, Ecuador, Bolivien und Peru sowie Wissenschaftler*innen zur Entstehung, Bedeutung, Lebbarkeit und Wirksamkeit von Utopien in Regionen, deren wirtschaftliche Basis wesentlich vom Abbau oder der Umwandlung fossiler Energieträger abhängt.

Hintergrund

Utopien als „die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll“ (Horkheimer 1986) scheinen in Deutschland ausgedient oder zumindest an Bedeutung verloren zu haben. Hierfür gibt es zahlreiche Gründe, von denen wir hier nur einige aufführen möchten: Nach den beiden Weltkriegen gab es eine nachhaltige Skepsis gegenüber allzu großen und langfristigen Utopien (Hölscher 2013). Die Erfahrungen der Gewalt erinnern fast reflexartig daran, wie leicht Utopien in der Vergangenheit in Dystopien umgeschlagen sind. Auch in progressiven Kreisen dominieren mittlerweile negative Zukunftsvorstellungen, wie z.B. die Angst vor einer Klimakatastrophe oder wachsender Fremdenfeindlichkeit, wodurch der Raum beschränkt ist, in dem Ideen für Utopien entwickelt werden können. Darüber hinaus konnte sich das kapitalistische Wirtschaftssystem bislang recht erfolgreich durch eine vermeintliche Integration von Kritik stabilisieren, z.B. indem ökologischere Produktions- und Konsumweisen als individuelle Optionen eingeräumt wurden, so dass individuelle Entscheidungen anstatt des Systems als Ganzen im Fokus der Kritik standen. Auch werden die Begriffe Utopien und Visionen gegenwärtig vor allem im Kontext technologischer Neuerungen verwendet. Dabei bleibt häufig unklar, ob die Neuerungen emanzipatorisch wirken.

Auch wenn es gute Gründe gibt, kritisch mit Utopien umzugehen, ist es problematisch, wenn sie verloren gehen. Zunächst ist der Drang Utopien zu entwickeln Teil der menschlichen Identität. Sie haben sowohl individuell als auch gesellschaftlich Bedeutung als Ausdruck dessen, was noch nicht ist bzw. noch werden kann (Bloch 1959). So verstandene Utopien beschreiben auch keine Zielzustände, sondern immer Alternativen, die für weitere Entwicklungen offen sind. Ohne Utopien fehlen Menschen wesentliche Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten, denn, was wir als denkbar und möglich ansehen, hängt von dem ab, was wir uns vorstellen können (Wright 2009). Wenn innerhalb der Parlamente progressive Alternativen zum Status quo kaum mehr debattiert werden, gleichzeitig aber ein Teil der Bevölkerung empfindet, dass die Probleme der Zeit mit der vorgeschlagenen Politik nicht zu lösen sind, wird die Notwendigkeit für Utopien besonders deutlich.

Doch welche Bedeutung haben Utopien heute für soziale Bewegungen und Prozesse? Im Idealfall können Utopien dazu beitragen, neue Sichtweisen zu eröffnen, Orientierung zu geben und mit vermeintlichen Lösungen kritisch umzugehen. Risiken könnten allerdings darin bestehen, dass Utopien zu Frustrationen führen, weil sie nicht erreicht werden oder auch bestimmte Begriffe vom politischen Gegner aufgegriffen werden, um eine Bewegung zu vereinnahmen. Historisch haben Utopien auch kompensatorisch gewirkt – als Trostpflaster unter erbärmlichen Lebenszuständen. Gleichwohl können Utopien auch konkrete Räume schaffen, in denen an Alternativen experimentiert werden kann und Zukunftsmöglichkeiten bereits in der Gegenwart gelebt werden. Es bedarf dieser Räume, weil die Arbeit am gesellschaftlichen Wandel gleichzeitig einer tiefgreifenden Arbeit an sich selbst erfordert und eines langsamen Prozesses der Befreiung von Zwängen bedarf, die oft Teil des alltäglichen, scheinbar selbstverständlichen Handelns geworden sind (Muraca 2016).

Utopien gegen Extraktivismus

Aus einer Nachhaltigkeitsperspektive fokussieren wir mit dem dreitägigen Workshop auf Utopien von Aktivist*innen aus Extraktivismusregionen, da sich an dieser Thematik unterschiedliche und unvereinbare Visionen einer zukünftigen Gesellschaft und Wirtschaft sowie Generationengerechtigkeit zeigen, z.B. darin, welche Bedeutung wirtschaftlichem Wachstum für gesellschaftliche Entwicklung eingeräumt wird.

Wir haben zu dem Workshop Aktivist*innen eingeladen, die sich für alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsformen einsetzen. Ihre Arbeit besteht nicht nur aus „reinem Protest“, sondern darin, alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsformen zu entwerfen und jetzt schon zu leben. Auf dem Workshop berichten sie von der Entstehung, Bedeutung, Lebbarkeit und Wirksamkeit von ihren Utopien in Regionen fossilem Extraktivismus (Orte, deren wirtschaftliche Basis in wesentlichen Teilen vom Abbau oder der Umwandlung fossiler Energieträger abhängt) und diskutieren diese mit Wissenschaftler*innen. Ziel ist es einen Austausch über ihre inhaltliche sowie strategische Arbeit zu ermöglichen.

Ein Fokus auf die Perspektiven von Aktivist*innen aus den Amazonas- und Andenregionen Lateinamerikas (Peru, Bolivien, Ecuador) wurde gewählt, weil vor gut zehn Jahren die dort entstandenen Ideen des Buen Vivir oder Sumak Kawsay (Guten Lebens) weltweit für Furore sorgten, die die Ziele einer Harmonie mit sich selbst, der Gemeinschaft und der Natur miteinander verbunden haben und als Alternative zum globalen, auf das Wirtschaftswachstum fixierten Kapitalismus diskutiert wurden. Obwohl oder weil ein bestimmtes Verständnis von Buen Vivir mittlerweile Teil der Verfassungen von Ecuador und Bolivien geworden ist, ist mittlerweile eine Ernüchterung eingetreten, weil das Konzept des Guten Lebens auch genutzt wird, um eine weitere Ausbeutung der Natur zu rechtfertigen. In diesem Kontext möchten wir insbesondere besser verstehen, welche Bedeutung Utopien (noch) für Aktivist*innen haben und wie sie ihre Utopien weiterentwickelt haben. Weiterhin finden in Lateinamerika Prozesse auf einer substaatlichen Ebene Verbreitung, die ein Zusammenleben und eine Ökonomie ohne externe und zentralstaatliche Eingriffe anstreben. Durch kollektive Praktiken und alternative Erfahrungsräume, die soziale Experimente eröffnen, wird hier eine andere Basis als Selbstverständnis des Zusammenlebens entwickelt (Levitas 2010), die in einer individualistischen Gesellschaft kaum erreichbar scheint. Außerdem werden die Auswirkungen des extraktiven Wirtschaftsmodells als unmittelbare Bedrohung der Biodiversität und oft sogar des eigenen Lebens wahrgenommen. Dies verbindet sich zum Teil mit dem Anspruch Utopien zu entwickeln, die nicht nur lokal, sondern universal gelten.

Die Besonderheit der aus Deutschland eingeladenen Initiativen besteht darin, dass sie in den Medien oft lediglich als Organisationen im Braunkohleprotest dargestellt werden. Tatsächlich haben sie aber recht weitgehende Vorstellungen von einem anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem entwickelt und erleben sich als wirkmächtig darin gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen.

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