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Headline: Der Gelegenheit auf der Spur: Transformative Politik in Krisenzeiten

Transformative Politik, die den Übergang in eine nachhaltige Zukunft zum Ziel hat, ist weder das Ergebnis kontinuierlichen Fortschritts noch immer und überall gleich gut möglich. Sie ist vielmehr oft auf besondere Gelegenheiten angewiesen. In der Politischen Theorie gibt es dafür den Begriff des Kairós, benannt nach dem Gott der günstigen Gelegenheit. In dem Buch „Die Gelegenheit ergreifen – Eine politische Philosophie des Kairós“ untersucht IASS-Wissenschaftler Alexander Neupert-Doppler die Verwendung des Begriffs in aktuellen Theorien gesellschaftlichen Wandels.

Alexander Neupert-Doppler vor einer Kairós-Statue.
Alexander Neupert-Doppler vor einer Kairós-Statue. privat

Das Buch folgt einer These des US-Politikwissenschaftlers Erik Olin Wright, derzufolge es sich auch in Zeiten der Stagnation lohnt, immer wieder aufs Neue die Grenzen des Möglichen auszuloten. Denn Gelegenheiten, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, entstünden oft zufällig und unerwartet. Für Akteure transformativer Politik kommt es daher darauf an, so Wright, „‚die Gelegenheit zu ergreifen‘, für die sie nicht selbst verantwortlich sind“. Gerade Krisenzeiten öffneten auch immer Gelegenheitsfenster und erfordern heute Weichenstellungen in Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft.

Alexander Neupert-Doppler setzt sich kritisch mit der Kritik- und Utopielosigkeit postmoderner Theorieansätze auseinander. Er untersucht, wie Philosophen von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute auf den Kairós, den Gott der guten Gelegenheiten, als Denkfigur zurückgegriffen haben. Denker wie Paul Tillich, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Antonio Negri, Immanuel Wallerstein und Giorgio Agamben – sie alle haben den Kairós-Begriff als nützlich erachtet, um Veränderungen in Politik und Gesellschaft zu verstehen.

Ihre Perspektive auf historische Gelegenheiten ist laut Neupert-Doppler nützlich für eine Politisierung von Zukunft.  Denn mit dem Ende des gesellschaftlichen Fortschrittsglaubens erscheine die Zukunft als geschlossen. Sie werde allenfalls als Verlängerung der Gegenwart oder angesichts der Klimakrise als Bedrohung wahrgenommen. Der Gedanke, dass wir in einer „Kairós-Zeit“ leben, die ein geistesgegenwärtiges Handeln erfordert, lasse uns die Zukunft wieder als gestaltbar wahrnehmen, meint der Autor: „Es gilt: Weder das Handeln bei Gelegenheit verpassen, noch ein Handeln ohne Gelegenheit versuchen. Erst wenn die Erfahrung, bereits in einer Kairós-Zeit zu leben, zur bewussten
Erkenntnis dieses Kairós führt, sind richtige Handlungen denkbar.“

Neupert-Doppler, A. (2019): Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairós, (kritik & utopie), Wien : Mandelbaum Verlag, 310 p.
 
Weitere Informationen:

•    IASS-Forschungsgruppe „Politisierung von Zukunft“