Wissenschaft und Spiritualität: Kein Grund, sich voreinander zu fürchten
23.07.2025

Seit meiner Jugend ist es für mich selbstverständlich, dass meine Interessen für (Natur-)Wissenschaft und Spiritualität einander nicht ausschließen. Im Gegenteil. Mein wissenschaftlicher Blick auf die Welt hat stets mein spirituelles Verständnis des Lebens informiert, und umgekehrt hat meine Spiritualität auch die Art und Weise geprägt, wie ich als Forscher auf die Welt schaue. Schon während meines Physikstudiums hat mein damaliger Dozent in Astrophysik, Prof. Erwin Sedlmayr, mir ab dem ersten Semester ein Wissenschaftsverständnis vorgelebt, das sich nicht im Widerspruch zu Spiritualität oder Religion begreift. Er engagierte sich seinerzeit in einer Stiftung für den Dialog zwischen Naturwissenschaft, Kunst und christlichem Glauben.
Im Laufe der letzten zehn Jahre hat mich meine Arbeit mit vielen Menschen aus allen Erdteilen in Kontakt gebracht, für die eine fruchtbare Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität ebenso selbstverständlich ist wie für mich. Gleichzeitig erlebe ich es insbesondere in Deutschland immer wieder (oder es wird mir über Dritte zugetragen), dass offenes Interesse für Spiritualität in gewisser Weise „verpönt“ sei und bei anderen Wissenschaftler*innen Unbehagen oder offene Missbilligung auslöst. Wissenschaftler*innen, die sich in dieser Schnittstelle bewegen, betrieben ja „keine richtige Wissenschaft“ und ihre Arbeit sei „unwissenschaftlich“ oder gar „esoterisch“.
Derlei Erfahrungen und Rückmeldungen geben mir Anlass, auch meine eigene Herangehensweise an dieses Themenfeld immer wieder zu überprüfen und zu hinterfragen. So frage ich mich zum Beispiel:
- Sind meine Wertschätzung und mein Interesse für Spiritualität in irgendeiner Form unwissenschaftlich oder anderweitig problematisch?
- Gibt es gute Gründe dafür, Aspekte, die üblicherweise in den Bereich der Spiritualität fallen, aus dem Kontext meines wissenschaftlichen Arbeitens auszuschließen?
- Auf welchem wissenschaftlichen Fundament bewege ich mich, wenn ich aktiv den Austausch mit spirituellen Perspektiven suche?
Auch wenn ich selbst inzwischen keine physikalische Grundlagenforschung mehr betreibe, sondern mich der enger mit gesellschaftlichen Fragen verknüpften Forschung zu Nachhaltigkeit und Transformation zugewandt habe, begreife ich mich doch nach wie vor als Naturwissenschaftler. Ich habe Physik studiert aus Faszination und Liebe für das Wunder des Lebens und des Kosmos. Forschung bedeutete für mich stets das staunende Beobachten und strukturierte Analysieren der Gesetzmäßigkeiten im Unbekannten der Wirklichkeit. Mein wissenschaftlicher Methodenkanon gibt mir ein ständig wachsendes Instrumentarium dafür, Prozesse der Wirklichkeit zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren. Bis heute fasziniert es mich, dass ich mithilfe von Rastertunnelmikroskopie in der Lage war, Veränderungen in den elektronischen Zuständen einzelner Atome auf Halbleiteroberflächen zu verstehen. Ich darf sagen: Ich bin beeindruckt von den Errungenschaften des wissenschaftlichen Denkens im Laufe der letzten Jahrhunderte.
Gleichzeitig komme ich an drei zusätzlichen Erkenntnissen nicht vorbei:
1) Andere Wissenstraditionen haben auch Substanz.
So sehr ich selbst ein Kind des wissenschaftlichen Denkens sein mag, so sehr kann ich doch gleichzeitig anerkennen, dass Menschen (oder Kulturen) in anderen Kontexten ihre eigenen Wege gefunden haben, Systematiken im Lauf der Wirklichkeit zu erkennen, zu verstehen und zu deuten. Ich käme mir selbst engstirnig vor, wenn ich aufgrund meiner Begeisterung für die mir vertrauten wissenschaftlichen Methoden nicht die gleiche ur-wissenschaftliche Neugier und Offenheit mitbrächte, auch diese anderen Ansätze ernst zu nehmen und mir anzuhören, welche Erkenntnisse sie jeweils hervorbringen und auf welchem Fundament sie sich bewegen. Der Forschungsansatz von Transdisziplinarität gibt mir hier einen Rahmen, auch solch anderen Wissenstraditionen (auch in meinem eigenen Kulturkreis) auf Augenhöhe zu begegnen und voneinander zu lernen und Wissen zu integrieren (Lawrence et al. 2022).
2) Als Forscher bin ich gleichzeitig Mensch und damit Sinnsuchender.
Ich erlebe mich mit meiner Forschung eingebettet in den Evolutionsprozess des Lebens auf der Erde. Mit meiner Forschung hoffe ich Erkenntnisse zu generieren, die sinnvoll zu diesem Prozess beitragen. Notwendigerweise berührt diese Arbeit auch Fragen nach einem tieferen Sinn, der außerhalb dessen liegt, was sich mit wissenschaftlichen Methoden befriedigend beantworten ließe. Ich könnte meine Forschungsarbeit nicht leisten, wenn ich mich nicht spirituell in dieser Welt verortet wüsste. Einerseits könnte man solche Aspekte „persönlich“ und damit gerade in Deutschland „privat“ nennen. Andererseits informieren die Antworten auf diese Sinnfragen selbstverständlich meine Entscheidungen als Forscher.
Bei den Halbleiteroberflächen meiner Doktorarbeit mochte das noch nebensächlich sein. Bei Forschung jedoch, die sich explizit der Interaktion zwischen Menschen und nicht-menschlichem Leben widmet, ist die Vorstellung eines „objektiven“ Forschers illusorisch. Mensch und Forscher lassen sich hier nicht vollständig trennen. Ich kann und will diese Berührung von Mensch und Forschendem nicht leugnen, sondern halte es auch im Interesse der Verlässlichkeit meiner Forschungserkenntnisse für sinnvoller, mich dieser Verbindung bewusst zu widmen und sie als Teil meiner Forschung zu reflektieren.
3) Spiritualität ist eine real wirksame Kraft in unserer Welt.
Mein Forschungsgegenstand erfordert die Integration von Perspektiven, die bisher nicht Teil des mir vertrauten Wissenskanons sind. Ich bin Teil eines Erdsystems, das sich in einem tiefgreifenden Umbruch befindet und meine Forschung widmet sich dem global wirksamen Handeln von Menschen. Innerhalb dieses „Mensch-Erde-Systems“, wie Jürgen Renn es einmal nannte, wirken Menschen mit einer Vielzahl von Hintergründen und Perspektiven. Viele Menschen orientieren ihr Handeln dabei an Erkenntnissen, die wenig damit zu tun haben, ob es dafür wissenschaftliche Evidenz gibt oder nicht. Dafür muss ich nicht in die Ferne anderer Kulturkreise schweifen. Auch hier in Deutschland treffen viele Menschen ihre Entscheidungen selbstverständlich aufgrund von persönlichen Wertvorstellungen oder auch Ängsten oder anderweitig bewusster oder unbewusster Präferenzen.
Spiritualität und Religion gehören eindeutig zu jenen Einflüssen, die für Menschen handlungsleitend sind. Spiritualität ist damit eine real wirksame Kraft im Mensch-Erde-System. Wenn ich einen Erkenntnisbeitrag für die aktuelle Lage der Welt leisten möchte, dann sollte ich in der Lage sein, diese Perspektiven ehrlich zu verstehen und mit ihnen in Kontakt zu treten.
Alle drei Erkenntnisse bestärken mich in der Entscheidung, mich nicht nur privat, sondern auch im Rahmen meiner Forschung mit spirituellen Traditionen auseinanderzusetzen und von ihnen zu lernen. Damit fühle ich mich keineswegs als Exot. Weltweit gibt es unzählige Forschende an dieser Schnittstelle. Und natürlich haben sich viele bedeutende Forscher lange vor mir substanziell mit Spiritualität beschäftigt. Ohne hier ins Detail gehen zu wollen, möchte ich kurz ein paar Beispiele aufführen, bewusst konzentriert auf jene, die aus einer Sozialisation kommen, die mir ähnlich ist, also Physiker aus dem deutschsprachigen Raum oder Mitteleuropa:
- Isaac Newton (1643–1727) war tief in alchemistische Studien und religiöse Schriften vertieft, beschäftigte sich intensiv mit biblischen Prophezeiungen und suchte in der Bibel nach verschlüsselten Botschaften. Seine spirituellen und theologischen Ansichten beeinflussten seine Arbeit stark, auch wenn er diese Überzeugungen meist für sich behielt.
- Max Planck (1858–1947) war tief religiös und überzeugt, dass Glaube und Wissenschaft nicht im Widerspruch stehen müssen, sondern sich gegenseitig ergänzen können. Er betonte, dass Wissenschaft und Religion unterschiedliche Sphären des menschlichen Wissens betreffen: Während die Wissenschaft die Welt der Tatsachen und Phänomene erforscht, beschäftigt sich Religion mit den Werten und dem Sinn des Lebens. Planck sah in der Wissenschaft einen Weg, die „göttliche Ordnung“ des Universums zu entdecken.
- Albert Einstein (1879–1955) sprach oft von einem „kosmischen religiösen Gefühl“ und bezog sich dabei auf ein tieferes Bewusstsein für die Ordnung und Schönheit des Universums. Sein berühmtes Zitat „Gott würfelt nicht“ zeigt seine Überzeugung, dass das Universum von einer gewissen Ordnung geleitet wird, die fast spirituellen Charakter hat. Er sprach von „Spinozas Gott“, einem pantheistischen Gottesbild, bei dem Gott und das Universum eins sind.
- Niels Bohr (1885–1962) interessierte sich sehr für die Beziehung zwischen Wissenschaft und Philosophie, einschließlich spiritueller Fragen. Bohr war inspiriert von der Komplementarität der Quantenphysik, die er auf tiefere philosophische und sogar spirituelle Fragen ausdehnte. Er war fasziniert von der Philosophie des Taoismus, die betonte, dass scheinbar gegensätzliche Kräfte in Harmonie zusammenwirken.
- Erwin Schrödinger (1887–1961) war tief in die Philosophie und Spiritualität des Hinduismus und Buddhismus vertieft. In seinem Buch „Was ist Leben?“ sprach Schrödinger über die Idee der Einheit des Bewusstseins, inspiriert durch die Vedanta-Philosophie des Hinduismus. Er glaubte, dass das individuelle Selbst eine Illusion sei und dass es eine universelle Realität gebe, die sich in allen Individuen manifestiert.
- Werner Heisenberg (1901–1976) sprach oft davon, dass das tiefe Verständnis der Quantenwelt eine neue philosophische Dimension eröffnet, die traditionelle Auffassungen von Raum, Zeit und Realität infrage stellt. Er interessierte sich für die Verbindungen zwischen der Quantenphysik und spirituellen Traditionen, wie dem Zen-Buddhismus und dem Taoismus, die sich ebenfalls mit der „Leere“ und Unbestimmtheit der Realität beschäftigen.
- Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) sah Wissenschaft und Spiritualität als komplementäre Wege zur Wahrheit. Er glaubte, dass Wissenschaft sich mit dem “Wie” der Welt beschäftigt, während Spiritualität das “Warum” anspricht. Er beschäftigte sich mit Hinduismus und Buddhismus und engagierte sich für den interreligiösen Dialog als essentiellen Beitrag für den Frieden in der Welt. Unter Berücksichtigung spiritueller und philosophischer Themen suchte er nach einer umfassenden Theorie, die Physik, Kosmologie und Bewusstsein zusammenbringt.
- Hanns Peter Dürr (1929–2014) sah das Universum als ein dynamisches Netzwerk von Beziehungen ohne strikte Trennung zwischen Geist und Materie. Er fand viele Parallelen in spirituellen Traditionen wie dem Buddhismus und dem Taoismus und glaubte, dass diese besser geeignet seien, die Interkonnektivität der Realität zu verstehen. Dürr betonte die Wichtigkeit einer intuitiven, nicht-analytischen Herangehensweise, die er in der östlichen Spiritualität wiederfand, und glaubte zudem, dass eine spirituelle Sicht auf die Welt notwendig sei, um die globalen Probleme zu lösen, denen die Menschheit gegenübersteht.
Diese Übersicht ist sehr knapp gehalten, und natürlich sind in jüngerer Vergangenheit etliche teils prominente Beispiele hinzugekommen. Ohne dass ich mit allen Aktivitäten oder Schlussfolgerungen dieser Physiker übereinstimme, so bestärkt es mich doch in meiner grundsätzlichen Einschätzung. Wenn Planck, Heisenberg und Schrödinger auf ähnlichen Pfaden nach Erkenntnis suchten, dann fühle ich mich wissenschaftlich in soliden Fußstapfen, wenn ich mich um ein wechselseitiges Lernen und Integration von Wissenschaft und Spiritualität bemühe. Wenn Wissenschaftler wie die oben Genannten bis heute (zurecht) als maßgeblich für unsere wissenschaftliche Tradition angesehen werden, dann lohnt es sich wertzuschätzen, mit welchem Weltbild sie schon zu Lebzeiten über ihren jeweiligen Tellerrand hinausgeschaut haben.
Selbstverständlich fremdele ich als Wissenschaftler mit vielem, was sich „spirituell“ nennt. Oft genug bin ich auch irritiert, wenn bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse entfremdet und als Erklärungsmodelle für spirituelle Weltdeutungen verallgemeinert werden. So wie es reichlich „Pseudo-Wissenschaft“ gibt oder Wissenschaftler, die sich von Medien zu „Welterklärern“ überhöhen lassen, so gibt es meinem Eindruck nach auch viel „Pseudo-Spiritualität“ und Quacksalberei oder missionarische Belehrung. Ich habe daher viel Verständnis für Kolleg*innen, die mit dem Eindruck (oder Vorurteil?) leben, Spiritualität sei im Wesentlichen substanzloses Geschwafel. Ebenso wie ich Verständnis dafür habe, dass es spirituell interessierte Menschen gibt, die den Eindruck (oder das Vorurteil?) haben, Wissenschaft sei „kalte und herzlose Rationalität“. Beides entspricht natürlich nicht der Wahrheit und für beide Pole gibt es jeweils eine „gesunde Mitte“.
Selbstverständlich braucht es den Dialog zwischen Wissenschaft und Spiritualität nicht überall. Ich möchte kein Plädoyer „für Spiritualität“ halten oder gar den Eindruck erwecken, jede/r Forschende solle sich unbedingt für Spiritualität interessieren. Wozu auch? Für viele Kolleg*innen mag Spiritualität im Kontext ihrer Arbeit nicht relevant sein. Zugleich ist es mir ein Anliegen, deutlich zu machen, dass allein die Erwähnung des Wortes Spiritualität für uns als Wissenschaftler*innen kein Anlass sein muss, vorschnell abzuwinken oder die Nase zu rümpfen.
Die Frage ist auch gar nicht primär, ob ich als Forscher mit bestimmten Erkenntnissen und Deutungen spiritueller Traditionen übereinstimme oder nicht. Die relevante Frage lautet für mich vielmehr, ob sich im Austausch mit spirituellen Perspektiven etwas Neues lernen lässt, das für mich als Forscher relevant ist. Und hier bin ich überzeugt, dass im Dialog zwischen beiden Perspektiven ein fruchtbares Lernen voneinander nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht vielversprechend ist. Ich halte ihn auch für den Umgang mit unseren aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen für wichtig und sinnvoll.
In jedem Fall ist die Wissenschaftlichkeit unserer Arbeit nicht infrage gestellt, wenn wir uns für den Austausch mit spirituellen oder anderen Perspektiven öffnen, die nicht auf den gleichen erkenntnistheoretischen Grundlagen fußen wie unsere eigene Wissenschaftspraxis. Ich fühle mich hier in guter Tradition von Heisenberg, der sagte, dass wirkliches Neuland in einer Wissenschaft wohl nur gewonnen werden könne, wenn man an einer entscheidenden Stelle bereit ist, den Grund zu verlassen, auf dem die bisherige Wissenschaft ruht, und gewissermaßen ins Leere zu springen.
Daher möchte ich zum Abschluss nochmal auf den von mir so geschätzten Astrophysiker Erwin Sedlmayr verweisen. Er sagte zu Beginn seiner Grundlagenvorlesung sinngemäß: „Sie lernen bei mir einen ganz bestimmten Zugang zur Sonne und zu den Sternen. Dieser Zugang ist geeignet, um Antworten auf eine ganz bestimmte Sorte von Fragen zu finden, die Sie an die Sonne stellen können, für eine ganz bestimmte Sorte von Anliegen oder Zielen. Sie werden aber auch Fragen haben, für die dieser Zugang nicht hilfreich ist. Bitte verlernen Sie daher niemals die Fähigkeit, ihr Fenster der Anschauung immer wieder zu wechseln und auch anders auf dieselbe Sonne zu schauen.“
Diese grundsätzliche Bereitschaft und Offenheit scheinen mir ein hohes Gut innerhalb und außerhalb der Wissenschaft zu sein, zu Zeiten von Heisenberg ebenso wie heute. Die Fragen, die es heute zu klären gilt, sind derart komplex, dass wir wirklich gute Gründe brauchen, ehe wir irgendeine andere Perspektive aus unserem Erkenntnis- und hoffentlich Lösungsprozess ausschließen. Die ergebnisoffene Begegnung und Auseinandersetzung mit spirituellen Perspektiven erscheint mir essenziell für das, was mich als Wissenschaftler bewegt, und meine bisherigen Erfahrungen auf diesem Lernprozess ermutigen mich, in dieser Richtung weiterzugehen. Ich bin gespannt, was sich dabei finden wird.