Forschungsinstitut für
Nachhaltigkeit | am GFZ

Wie Experimentierfreude Dynamik in die nachhaltige Stadtentwicklung bringt

12.06.2025

Thomas Spinrath

M. A. Thomas Spinrath

thomas [dot] spinrath [at] rifs-potsdam [dot] de
Kreative Straßenbemalung soll Fußgänger:innen im öffentlichen Raum stärken.
Kreative Straßenbemalung soll Fußgänger:innen im öffentlichen Raum stärken.

Der fortschreitende Klimawandel und die sozial-ökonomischen Entwicklungen im städtischen Raum erfordern es, öffentliche Räume neu zu denken: mehr Stadtgrün, mehr Platz für aktive Mobilität, mehr Raum für Begegnungen. Kommunen fällt es bisher jedoch schwer, die dafür nötigen Umgestaltungen schnell und flexibel auf den Weg zu bringen. Wir haben in einer neuen deutsch-französischen Studie die Potenziale von Experimentierlösungen im öffentlichen Raum analysiert.

Öffentliche Räume neu denken

Innenstädte in Deutschland und Frankreich befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel: Der Einzelhandel verändert sich, es treten vermehrt Hitze- und Starkregenereignisse auf, größere Autos nehmen zunehmend Platz in der Stadt ein. In der westfranzösischen Stadt La Roche-sur-Yon kam erschwerend hinzu, dass durch groß angelegte Bauarbeiten in der Innenstadt das Stadtzentrum zu veröden drohte. Die Kommune brauchte eine schnelle Antwort, um das zu verhindern. Sie entschied sich daher für die experimentelle Umgestaltung einer zentralen Einkaufsstraße. Zusammen mit Einwohner:innen entwarf die Stadtverwaltung flexible, große Holzmodule, die dort innerhalb von nur neun Monaten nach Projektbeginn installiert wurden. Zu diesen zählen unter anderem eine Bibliothek, eine Open-Air-Kneipe und ein Kunstparcours. Die Holzmodule sollen zum Verweilen anregen und erlauben durch leichte Umbaumöglichkeiten, verschiedene Nutzungen zu testen. 

Mit Holzmodulen schaffte La Roche-sur-Yon eine schnelle, flexible Neugestaltung einer zentralen Einkaufsstraße.
Mit Holzmodulen schaffte La Roche-sur-Yon eine schnelle, flexible Neugestaltung einer zentralen Einkaufsstraße.

Angesichts der Schwerfälligkeit klassischer Stadtplanung können baulich leichte und reversible Umgestaltungen des öffentlichen Raumes – wie in La Roche sur Yon – eine neue Dynamik in die Stadtentwicklung bringen. Das ist eine zentrale Botschaft aus dem binationalen Expert:innendialog, den das Deutsch-Französische Zukunftswerk mit Kommunen, Ministerien, Forscher:innen und NGOs zum Thema der nachhaltigen Stadtentwicklung organisiert hat. Der Dialog zeigte auch: Bisher bleiben Experimentierlösungen die Ausnahme und sollten durch die Regierungen in Bund und Ländern sowie in Paris besser unterstützt werden.

Experimentierlösungen bieten Beschleunigung, Aneignung und Anpassung

Die Politikvorschläge zur Stärkung von Experimentierlösungen, die im deutsch-französischen Austausch entstanden, haben wir zum Anlass genommen, genauer hinzuschauen: Wo liegen die konkreten Potenziale für die nachhaltige Stadtentwicklung? Dazu haben wir vier Experimentierlösungen in einer Cross-Case-Study analysiert: die bereits erwähnte Einkaufsstraße in La Roche-sur-Yon, Pop-up-Radwege, die während der Pandemie in Berlin entstanden, ein gemeinwohlorientierter Freiraum in München sowie kreative Straßenbemalungen in Rouen. Die vier Fallbeispiele zeigen: Experimentierlösungen beschleunigen nicht nur die Umgestaltung öffentlicher Räume, sie können auch die Aneignung dieser Räume durch die Bevölkerung stärken und eine flexible Anpassung an klimatische und soziale Anforderungen bieten. Denn durch die schnelle, provisorische Umgestaltung kann die Beteiligung der Bevölkerung auf Basis konkret sichtbarer Veränderungen stattfinden.

Die Berliner Pop-up-Radwege entstanden 2020 jeweils innerhalb weniger Tage.
Die Berliner Pop-up-Radwege entstanden 2020 jeweils innerhalb weniger Tage.

Das sichtbare Provisorium ist auch eine Botschaft an die Bevölkerung: Wir können die Gestaltung schnell anpassen, wenn Probleme auftreten! In La Roche-sur-Yon wurde beispielsweise ein Modul so umgestaltet, dass die Sicht auf den dahinter liegenden Einzelhandel freier wurde. Schritt für Schritt können in der Erprobungsphase gute Lösungen gefunden werden. Denn oftmals zeigt erst die Erfahrung in der Praxis, welche Gestaltungen sich bewähren und von der Bevölkerung angenommen werden. Hier sind Experimentierlösungen im Vorteil gegenüber einer klassischen Stadtplanung, die im wahrsten Sinne des Wortes direkt „in Stein gemeißelt“ wird. Das bedeutet aber auch: Experimentierlösungen sind vor allem sinnvoll, wenn sie eine Aussicht auf Verstetigung haben und nicht als von vorneherein zeitlich begrenzte Zwischennutzung wieder abgebaut werden müssen. In Berlin wurde ein Großteil der Pop-up-Radwege aufgrund der hohen Nutzung innerhalb von einem Jahr als dauerhafte weiße Markierung verstetigt. In La Roche-sur-Yon wird nach den ersten, schnellen Anpassungen der Module perspektivisch ein dauerhafter Umbau der Einkaufsstraße angedacht, der aufgrund von Budgetkürzungen aber noch nicht gesichert ist. Bis dahin bleiben die Holzmodule und können weiter genutzt werden.

Kulturwandel in der Verwaltung

Experimentierlösungen bedeuten auch eine andere Haltung und ein Umdenken der Verwaltung: „Wenn ein Raum mit provisorischen Mitteln neu aufgeteilt ist, kann man als planende Person zur Kenntnis nehmen: Das funktioniert sogar mit so einfachen Mitteln schon ganz gut. Ich muss nicht diese absolute Planungstiefe erreichen“, beschreibt ein Projektverantwortlicher den Vorteil der Pop-up-Radwege in Berlin. Ein iteratives Vorgehen mit mutigen, schnellen Lösungen, die in der Praxis noch verbessert werden können, ist aber für viele Verwaltungen nach wie vor ungewohnt. Hier können Bund und Länder unterstützen, damit Experimente nicht länger die Ausnahme bleiben. Ganz praktisch macht das die Servicestelle Ortsmitten des Landes Baden-Württemberg vor. Sie verleiht Pop-up-Mobiliar an Kommunen und berät bei der Planung und Umsetzung von Experimentierlösungen.

Lesen Sie die vollständige RIFS Study: Spinrath, T. E., Frantz, A., & Plessing, J. (2025). Experimentelle Stadt, nachhaltige Stadt? Potenziale von Experimentierlösungen im öffentlichen Raum in Deutschland und Frankreich. RIFS Study, Juni 2025. DOI: 10.48481/rifs.2025.022

Lesen Sie mehr zum Deutsch-Französischen Zukunftswerk und unseren Handlungsempfehlungen unter https://df-zukunftswerk.eu 
 

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