Juristische Innovationen und die „Reise der Rechte“ auf dem Fluss Arapiuns
06.06.2025

Wir schreiben dies von einem Boot auf dem Arapiuns-Fluss im Norden Brasiliens, wo wir an einem ethnografischen Dokumentarfilm arbeiten. Der Film beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur - und besonders mit der Frage, ob eine Verankerung von Rechten der Natur in Rechtsprechungen dazu beitragen könnte, die miteinander verwobenen Klima- und Umweltkrisen zu bewältigen. In diesem Beitrag möchten wir einige Eindrücke von einer Vorbereitungsveranstaltung zur COP30 der „Forest Youth“ teilen und einen Einblick in die Arbeit an unserem Film geben.
In den riesigen Weiten des brasilianischen Amazonasgebiets hat das Zusammentreffen mehrerer Umweltkrisen eine wachsende Bewegung für juristische Innovationen hervorgebracht. Seit fast zwei Jahrzehnten kämpfen 155 traditionelle Gemeinschaften mit einer Bevölkerung von etwa 35.000 Menschen in den westlichen Regionen des Bundesstaates Pará um ihre Landrechte. Die Gemeinden, die Teil des „Lago Grande Agro-Extractive Settlement Project“ (PAE) sind, kämpfen gegen illegale Abholzung und Landraub sowie gegen den allgegenwärtigen Einfluss von Bergbauinteressen - Herausforderungen, die oft durch mangelnde Unterstützung von Regierungsstellen noch verschärft werden.
Das Herzstück dieses Gebiets ist der Arapiuns-Fluss, ein unberührter Nebenfluss des Amazonas. Sein rund 7.064 Quadratkilometer großes Einzugsgebiet beherbergt eine reiche biologische Vielfalt und bildet die Grundlage für den Lebensunterhalt der dortigen Gemeinden. Diese nutzen die Ressourcen des Flusses für Transport, traditionelle landwirtschaftliche Praktiken und neuerdings auch für Community-Based Tourism (einen sozialverantwortlichen, partizipativen Tourismus, der auf lokalen Strukturen aufbaut) als nachhaltige Form der Einkommensgenerierung.

Jugendmobilisierung und der Weg zur COP30
In Vorbereitung auf die COP30 in Belém, Pará, versammelten sich junge Menschen aus dem Amazonasgebiet unter den Mottos „Wir sind nicht im Gebiet, wir sind das Gebiet“ und „Klimagerechtigkeit ist ein gutes Leben“ in Lago Grande. Die „Pre-COP30 of the Forest Youth“ wurde vom Jugendkollektiv „Guardiões do Bem Viver“ organisiert und unterstrich dessen kollektive Entschlossenheit, sich direkt in die globalen Klimadialoge einzubringen. Als RIFS-Forschende, die sich mit der nachhaltigen Zukunft des Amazonasgebiets befassen, besuchten wir die Veranstaltung, zu der über 800 Teilnehmende aus Gemeinden innerhalb des PAE und aus benachbarten Gebieten kamen. An zwei Tagen nahmen wir an einer Reihe von Workshops über Klimagerechtigkeit, politisches Engagement und die Herausforderungen für den Umweltschutz in dem Gebiet teil. Außerdem unterstützten wir die Organisation „Movimento Tapajós Vivo“ (Lebendige Tapajós-Bewegung) bei der Durchführung eines Workshops über die „Rechte des Flusses“, in dem Meinungen zum Schutz des Arapiuns-Flusses gesammelt und die Möglichkeiten und Herausforderungen der Gewährung von Rechten am Fluss diskutiert wurden.

Ein zentrales Ergebnis dieses Treffens war die Formulierung eines „Politischen Briefes“, in dem Landrechte als Hauptanliegen genannt werden und der auf der COP30 vorgelegt werden soll. Der „Politische Brief“ umreißt umfassend die Besorgnis über die Auswirkungen unkontrollierter wirtschaftlicher Aktivitäten und hebt deren Beitrag zur Umweltzerstörung, zu Menschenrechtsverletzungen und zur Bedrohung von Gemeindevorsteherinnen und -vorstehern hervor. Besonders hervorzuheben ist, dass die Initiative auch alternative Wirtschaftsmodelle vorstellt, die von Sara Pereira, Koordinatorin von FASE Amazônia, erläutert wurden. Sie betonte die Notwendigkeit einer Abkehr von den derzeitigen Wirtschaftsparadigmen hin zu einem Modell, in dessen Mittelpunkt das gute Leben – „bem viver“ – steht, das menschliche und ökologische Beziehungen über die materielle Akkumulation stellt und die Agrarökologie für eine nachhaltige und chemikalienfreie Nahrungsmittelproduktion mit gerechten Arbeitsbedingungen fördert.
Die Diskussionen auf der COP-Vorbereitungsveranstaltung beinhalteten auch eine kritische Bewertung bestehender Klimalösungen, einschließlich Kohlenstoffgutschriften, die als potenzielle Verschleierung von Treibhausgasemissionen angesehen wurden. Die Jugendvertreterinnen und -vertreter sprachen sich für echte Lösungen aus, die in den Gebieten selbst entstehen, und förderten dezentrale und vielfältige wirtschaftliche Ansätze, die den lokalen Gemeinschaften direkt zugutekommen.

Landtitel: ein unerfülltes Versprechen
Der Jugendgipfel ist nur eine von mehreren Aktivitäten, die Guardiões do Bem Viver seit 2019 in Zusammenarbeit mit FEAGLE, einem regionalen Zusammenschluss von Gemeindeverbänden, organisiert. Diese Bemühungen sind Teil eines umfassenderen Kampfes für Landrechte im PAE Lago Grande, wo die Gemeinden seit der offiziellen Anerkennung im Jahr 2005 durch das Nationale Institut für Kolonisierung und Agrarreform (INCRA) und 2008 durch das Brasilianische Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen (IBAMA) auf die Erteilung kollektiver Landtitel warten. Dieser Prozess, der die Georeferenzierung von 250.000 Hektar Land, die Aktualisierung der Katasterunterlagen und die Regelung des Status der angesiedelten Familien umfasst, ist für die Bewohnerinnen und Bewohner unerlässlich, um den Konzessionsvertrag für das tatsächliche Nutzungsrecht (CCDRU) zu erhalten. Dieses Dokument sichert ihren Landbesitz und ist eine wichtige Garantie für Gemeinden, die in föderalen Schutzgebieten und „ökologisch differenzierten Siedlungen“ wie Lago Grande leben.
Laut Darlon Neres, einem der führenden Köpfe von Guardiões do Bem Viver, gehört die kollektive Landtitelvergabe zu den größten Hoffnungen der Gemeinschaften. Sie bleibt jedoch ein fernes Ziel, was nach Ansicht der Gruppe am mangelnden Willen der Behörden liegt. Obwohl die PAE vor etwa 19 Jahren gegründet wurde, haben die Bewohnerinnen und Bewohner immer noch keinen Zugang zu öffentlichen Maßnahmen, die von INCRA und der brasilianischen Regierung im Rahmen der Agrarreform durchgeführt werden sollten. In Ermangelung offizieller Titel haben die Gemeinden keinen Zugang zu wichtiger Unterstützung und Ressourcen.
Diese lange Verzögerung hat dazu geführt, dass das PAE Lago Grande für die allgegenwärtige Umweltzerstörung anfällig ist, einschließlich illegaler Weidehaltung, Straßenbau und Landgrabbing. Die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft (MPF) berichtet von 6.500 gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren im Zusammenhang mit Umweltkriminalität in dem Gebiet, wobei in 87 Fällen speziell Grilagem (Landgrabbing) oder die „Invasion von öffentlichem Land“ genannt wird. Diese Unsicherheit behindert unmittelbar den Zugang der Gemeinschaften zu öffentlichen Maßnahmen, Förderprogrammen für die Agrarproduktion, Bildung und Gesundheitsversorgung. Zudem verschärft sie soziale Probleme und Gewalt.

Die reichen Bodenschätze der Region, insbesondere Bauxit, haben großes Interesse bei Außenstehenden geweckt. Der amerikanische Bergbaukonzern Alcoa, der bereits in der Nachbarstadt Juruti Fuß gefasst hat, bekundete bereits 2003 sein Interesse an Lago Grande. Obwohl Alcoa keine Lizenz für den Betrieb innerhalb der Siedlung besitzt, hat es sich an „sozialen Aktionen“ beteiligt und sich verpflichtet, die „Entwicklung“ zu unterstützen, was den Verdacht aufkommen lässt, dass es die Gemeinden vereinnahmen will. In ähnlicher Weise bieten illegale Holzfällerbetriebe den Anwohnern häufig „Beiträge“ an, angeblich um die durch ihre Tätigkeit verursachten Schäden zu mindern. Aber auch der legale Holzeinschlag flussaufwärts fordert seinen Tribut am Arapiuns-Fluss und den Gemeinden, die von ihm abhängen. Giftige Chemikalien werden in großem Umfang eingesetzt, um die in offenen Lagern aufgestapelten Stämme gegen Fäulnis und Insekten zu behandeln. Wenn es regnet, werden die Chemikalien in den Fluss gespült. Rinde und andere Abfälle aus dem Holzeinschlag werden ebenfalls im Fluss entsorgt, wo sie verrotten und gären. Das schadet den Fischbeständen und macht das Wasser zum Baden oder Waschen ungeeignet.
Der Kampf um Landrechte im PAE Lago Grande ist mit hohen persönlichen Kosten verbunden. Mehr als 20 Führungspersönlichkeiten haben von Drohungen im Zusammenhang mit ihrem Engagement berichtet. Unter der Regierung Bolsonaro (2018-2021) eskalierten die Spannungen in dem, was die Einheimischen als den „wahren Krieg gegen die Eindringlinge“ bezeichnen. Verleumdungskampagnen, die häufig durch Fehlinformationen angeheizt wurden, zielten auf führende Persönlichkeiten der Gemeinschaft ab und untergruben ihr Ansehen. Einige von ihnen verbündeten sich schließlich mit den Interessen der Agrarindustrie, was zu internen Konflikten und falschen Anschuldigungen gegen Gemeindeorganisationen führte.
Trotz dieser immensen Herausforderungen fahren die Guardiões do Bem Viver und FEAGLE damit fort, irregulären Landbesitz zu kartieren, den Bedarf an kommunaler Infrastruktur zu ermitteln und sich unermüdlich für ihre Rechte einzusetzen. Der Kampf innerhalb des PAE Lago Grande, der nun eng mit den Bemühungen um eine Gesetzgebung zur Sicherung der „Rechte der Natur“ für den Arapiuns-Fluss verwoben ist, spiegelt breitere Konflikte im gesamten Amazonasgebiet wider und wirft grundsätzliche Fragen darüber auf, wie Regierungen die traditionellen Rechte der Gemeinschaften, die Notwendigkeit des Umweltschutzes und die Interessen der Agrarindustrie und des Bergbaus in Einklang bringen können.

Ein Fluss mit Rechten: Ein Gesetzesentwurf für den Arapiuns
Die Guardiões do Bem Viver haben die zunehmende Bedrohung dieses wichtigen Ökosystems durch anthropogene Einflüsse erkannt und eine bahnbrechende Gesetzesinitiative ins Leben gerufen. Ihre Bemühungen, die im Jahr 2023 begannen, gipfelten in einem Gesetzentwurf über die Rechte des Arapiuns-Flusses. Sollte dieses Gesetz vom Stadtrat von Santarém verabschiedet und vom Bürgermeister abgesegnet werden, würde es einen historischen Präzedenzfall schaffen und einen bedeutenden Wandel in der Rechtspraxis markieren, da der Arapiuns der erste Fluss in Pará wäre, der juristisch als Subjekt von Rechten anerkannt würde.
Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, die lokale Umweltgesetzgebung an die weltweit besten Praktiken anzugleichen: die Anerkennung der Natur als Subjekt, das eigene Rechte besitzt. Die Guardiões do Bem Viver versuchen insbesondere, dem Fluss Arapiuns Rechte zu verleihen, die der Rechtspersönlichkeit und den Ansprüchen menschlicher Individuen entsprechen. Dies würde den bestehenden Rechtsschutz für die Umwelt- und Wasserressourcen erweitern und die ökologische Unversehrtheit des Flusses, sein natürliches Gleichgewicht und die Kontinuität seiner lebenswichtigen ökosystemischen Funktionen gewährleisten. Der Gesetzesentwurf schlägt auch die Einrichtung eines „River Guardian Committee“ vor, das einen formellen Mechanismus für Gemeindemitglieder darstellt, um sich für den Schutz des Flusses innerhalb der bestehenden Wassereinzugsgebietsausschüsse einzusetzen.

Das "Amazon of Rights"-Projekt: Dokumentation eines Paradigmenwechsels
Wir schreiben diesen Beitrag von unserem Produktionsboot auf dem Arapiuns-Fluss aus, wo wir eine neuntägige Reise über 270 Kilometer unternehmen. Zusammen mit sieben führenden Köpfen der Jugendgruppe Guardioes do Bem Viver besuchen wir Gemeinden, um Feldforschung zu betreiben und unseren Dokumentarfilm zu produzieren. Der Film ist Teil unserer Arbeit am Projekt „Amazon of Rights“ (AoR) (Link) und wird sich auf die Rechte des Flusses und den von der Jugend geführten Kampf zum Schutz der angestammten Gebiete konzentrieren. Das Projekt untersucht das dynamische Zusammenspiel von Rechten im Amazonasgebiet, insbesondere wie die ökozentrische Normativität - die Idee, dass Ökosysteme einen inhärenten Wert besitzen - die sozialen Praktiken und rechtlichen Vorstellungen von lokalen Gemeinschaften, indigenen Völkern, Aktivisten und Juristinnen beeinflusst und von ihnen beeinflusst wird.
Um diese vielschichtigen Praktiken zu verstehen, bedarf es mehr als einer Analyse der staatlichen Verfassungen und Rechtssysteme. Es erfordert die genaue Beobachtung und Untersuchung der täglichen Bräuche, der Rechtskulturen und der reichen mündlichen Wissenstraditionen der Flussbevölkerung - insbesondere der verschiedenen indigenen Völker, die entlang des Flusslaufs leben. Während indigene Gemeinschaften im Amazonasgebiet seit langem an die Natur als Lebewesen glauben, ist es wichtig zu verstehen, dass nicht alle das westliche Konzept der Rechte akzeptieren. Für einige ist der Begriff „Rechte“ selbst ein Fremdwort in ihrer Weltanschauung, und die weltweite Begeisterung für die „Rechte der Natur“ birgt gelegentlich die Gefahr, dass indigene Gemeinschaften romantisiert oder objektiviert werden.
Um diese komplexen Interaktionen zu erfassen, setzen wir ethnografische Methoden ein, wobei der Schwerpunkt auf der visuellen Ethnografie und dem Dokumentarfilm liegt. Dieser Ansatz ist wertvoll für die Erhebung von Primärdaten in mündlichen und gemeinschaftsbasierten Kontexten, insbesondere für die Erforschung nichtstaatlicher normativer Ordnungen, in denen Rechtssysteme oft durch mündliche Traditionen vermittelt werden. Der ethnografische Dokumentarfilm bietet ein einzigartiges Objektiv für die Rechtsforschung, das für die kontextuellen Nuancen der ökozentrischen Normativität und ihrer sozialen Realitäten sensibel ist. Das Hauptergebnis des Projekts ist ein kinematografischer Dokumentarfilm (ca. 60 Minuten), der sich jetzt in der Phase der Hauptaufnahmen befindet. Cecília Oliveira (RIFS Potsdam) und Mariana Lacerda (ehemalige RIFS-Stipendiatin) sind die Regisseurinnen des Films und arbeiten eng mit einem Team zusammen, das sich auf die Produktion von Filmen über indigene Rechte und Umweltrechte in Brasilien spezialisiert hat. Igor Karim (RIFS Potsdam) unterstützt die Forschungsgruppe bei der Auseinandersetzung mit den ethisch-theoretischen Dimensionen des wissenschaftlichen Filmemachens und bei der Integration der Filmproduktion als Teil der Forschungsmethodik.
Mit dem Projekt wollen wir ein internationales und transdisziplinäres Kooperationsnetzwerk aufbauen, das Rechtswissenschaftler, Politikwissenschaftler, Rechtsanthropologen, Dokumentarfilmer und lokale Akteure aus dem Amazonasgebiet zusammenbringt. Durch eine Kombination aus juristischer Desktop-Forschung, gemeinsamen Workshops, ethnographischer Feldforschung, Dokumentarfilmen und Interviews mit Aktivisten, indigenen Führern und Akademikern in Ecuador, Peru, Kolumbien und Brasilien wollen wir verstehen, wie unterschiedliche Auffassungen und Anwendungen der Rechte der Natur im Amazonasbecken die Entstehung neuer metaphysischer, epistemologischer und normativer Ordnungen in diesem global bedeutenden Ökosystem beeinflussen und gestalten.