Headline: Die ACHEMA 2022: Von der Notwendigkeit transdisziplinärer Zusammenarbeit

Rundenfinale der Science Rallye
Rundenfinale der Science Rallye IASS/Kristina Fürst

Ein Besuch auf der ACHEMA 2022 zeigt: Um die Klimaziele zu erreichen, müssen wir die Perspektiven der Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft stärker zusammenbringen.

Vergangene Woche durfte ich, als eine von 2200 Ausstellenden aus 51 Ländern, an der ACHEMA 2022 (Ausstellungstagung für chemisches Apparatewesen) teilnehmen. Im Projektvorhaben CO2 Win Connect organisierte ich eine Science Rallye. Diese sollte es Schüler:innen, Studierenden und Young Professionals vereinfachen, ins Gespräch mit den Ausstellenden der Halle 6.0 „Forschung und Innovation“ zu kommen. Außerdem konnten die Teilnehmenden Preise aus nachhaltig hergestellten Materialien sowie einen BASF-Werkbesuch in Ludwigshafen gewinnen. Die Ausstellenden und Teilnehmer:innen meldeten zurück, dass sie spannende Diskussionen hatten, die sie ohne die von uns konzipierten Fragebögen vermutlich nicht gehabt hätten. Mindestens an diesem Punkt darf sich das IASS also als Brückenbauerin zwischen den Vertreter:innen aus Wirtschaft und Forschung und dem „Nachwuchs“ sehen.

Besucherinnen und Besucher scannen den QR-Code des Buches „CO2-Nutzung für Dummies“ ein. Es ist als PDF kostenlos herunterladbar.
Besucherinnen und Besucher scannen den QR-Code des Buches „CO2-Nutzung für Dummies“ ein. Es ist als PDF kostenlos herunterladbar. IASS/Kristina Fürst

Gemischte Gefühle hatte ich bei dem Eröffnungspanel am Montagabend: Vier männliche CEOs, einer aus Norwegen, die anderen aus Deutschland, sowie der Moderator diskutierten die unausweichliche Transformation der Chemieindustrie und vertraten dabei sehr ähnliche Standpunkte. Aussagen wie die, dass die Chemieindustrie die entscheidende Rolle in der Erreichung unserer Klimaziele spielen werde oder dass Konkurrenzfähigkeit das neue Schlagwort für unsere deutsche Gesellschaft werden müsse (Dr. Martin Brudermüller), hatte ich in meiner Berliner Blase schon lange nicht mehr gehört.

In dem für mich „normalen“ Diskussionsklima weichen Konkurrenzgedanken zunehmend Ansätzen von multilateraler und innergesellschaftlicher Zusammenarbeit. Bei Diskussionsveranstaltungen zu Nachhaltigkeit stehen der konstruktive Wissens- und Erfahrungsaustausch im Vordergrund. Neben nationalen Interessen werden globale Verflechtungen und Klimagerechtigkeit thematisiert. Zum Beispiel stimmt es, dass für die deutsche Produktion strengere Umweltauflagen gelten als in vielen Ländern des Globalen Südens, was von vielen deutschen Unternehmen als konkurrenzhemmend angesehen wird. Aber die höheren Preise reflektieren nur einen Teil der Umweltkosten, welche die etablierten Industrienationen in den letzten Jahrhunderten ungehindert auf die globale Gesellschaft auslagern konnten. Heute treten die zerstörenden Effekte des Klimawandels vor allem in den Ländern auf, die kumuliert über die letzten Jahrhunderte den geringsten Beitrag an klimaschädlichen Emissionen geleistet haben.

Im politischen Berlin herrscht auch eine andere Sensibilität für die Panel-Diversität: Sind keine Frauen-Stimmen oder die Sichtweise von People of Colour, kurz PoC, vertreten und wird dazu keine Erklärung abgegeben, dauert es zumindest nicht lange, bis kritische Fragen aus dem Publikum kommen. Aus der Diversität der Diskussionsteilnehmer:innen ergeben sich dann auch lebendigere Unterhaltungen, mit echtem konstruktiven Austausch. Hier wird auf die ungleichen Auswirkungen des Klimawandels auf die verschiedenen Weltregionen, Gesellschaftsgruppen und Geschlechter hingewiesen.

Was ist das eigentliche Ziel unserer nationalen Klimamaßnahmen (Nationally Determined Contributions, kurz NDCs)? Zusammen sollen die nationalen Wirtschaftstransformationen aller UN-Mitgliedsstaaten den weltweiten Temperaturanstieg im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten auf 1,5°C beschränken. Für dieses globale Ziel ist es sinnvoll, global zusammenzuarbeiten und nationale Klimamaßnahmen aufeinander abzustimmen. Kurz gesagt: Globale Krisen und nationale Gewinnmaximierung passen aus meiner Perspektive nicht zusammen.

Auch wird es nicht zielführend sein, wenn ein Minderheitenpanel von ausschließlich europäischen Männern definiert, welche Klimamaßnahmen für die internationale Staatengemeinsamt am kosteneffizientesten sind. Zum Beispiel wurde auf dem ACHEMA-Panel ein bekanntes Argument wiederholt, dass es kosteneffizienter wäre, man würde der brasilianischen Regierung Geld zahlen, damit diese den brasilianischen Regenwald nicht weiter abholzt, als in Europa aktiv in CO2-Abscheidungsanlagen und CO2-Speicherung (Carbon Capture and Storage, kurz CCS) zu investieren. Ich bin sehr für den Erhalt des Regenwaldes, auch zum Schutz der darin lebenden indigenen Völker und der Biodiversität, aber solche Vorschläge können nur ernsthaft diskutiert und umgesetzt werden, wenn die direkt Betroffenen aus der Region zur Diskussion eingeladen werden. Hierzu ein Gedankenexperiment: Ich frage mich, wie Vertreter:innen der deutschen Industrie reagieren würden, wenn der US-amerikanische Investor Elon Musk der deutschen Regierung Geld anbieten würde, mit der Bitte die deutschen Klimaschutzmaßnahmen zu intensivieren, damit die USA ihre Stahlproduktion nicht beschneiden muss und gegenüber China konkurrenzfähig bleibt.

Wir sehen: Spätestens in der Umsetzung dieser Maßnahmen durch nationale, regionale oder lokale Governance-Strukturen prallen die Vorstellungen dieser Männer auf die unwahrscheinlich komplexeren Lebensrealitäten unserer diversen Weltgemeinschaft.

Eröffnungspanel der ACHEMA am 22. August 2022 mit BASF-CEO Martin Brudermüller (links). Die Messe stand dieses Jahr unter dem Motto "Inspiring Sustainable Connections".
Eröffnungspanel der ACHEMA am 22. August 2022 mit BASF-CEO Martin Brudermüller (links). Die Messe stand dieses Jahr unter dem Motto "Inspiring Sustainable Connections". IASS/Kristina Fürst

Die deutsche oder europäische Chemieindustrie allein wird die Klimatransformation nicht bestimmen können. Aber genauso wie Forschung, Politik und Gesellschaft ist die Industrie ein unabdingbarer Teil, ohne den die Neuausrichtung der Wirtschaft nicht gelingen kann. Daher ist es wichtig, dass wir regelmäßig aus unseren Wohlfühl-Blasen aussteigen und mit Vertreter:innen aus anderen Branchen diskutieren. Wir brauchen letztendlich für alle Beteiligten nachvollziehbare und umsetzbare Kompromisse.

Das bedeutet auch, dass wir als Gesellschaft (wieder) lernen müssen, miteinander zu diskutieren, Alternativen abzuwägen und es auszuhalten, auf komplexe Fragen komplexe Antworten zu finden. Kategorische Verbote von „neuen“ Umwelt- und Nachhaltigkeitstechnologien sind genauso wenig zielführend wie die Überhöhung einzelner Ansätze als „Silver Bullet“ im Kampf gegen die Klimakrise (ein, nebenbei bemerkt, stark militarisierter Ausdruck). Ich spreche hier zum Beispiel von Carbon Capture and Utilization (CCU) oder von (grünem) Wasserstoff. Technologieoffenheit bedeutet zuerst, die Effektivität einer Maßnahme für die Erreichung des 1,5°-Ziels wissenschaftlich von allen Seiten zu erforschen. Dies beinhaltet neben der technischen Machbarkeit die tatsächlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Risiken. Dabei müssen wir Verbände, Anwohner:innen und Verbraucher:innen an der Diskussion teilhaben lassen. Beispielsweise durch die Schaffung lokaler Diskussions- und Entscheidungsangebote. Die Aufgabe der Wissenschaft muss es sein, hierfür eine Wissensbasis zu schaffen, Informationsangebote zu machen. Denn die Akzeptanz der Bürger:innen wird das letzte Prüfkriterium sein, ob eine klug ausgetüftelte Energiewende vor Ort umgesetzt werden kann.

Eine feministische Klimapolitik, bei der Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft aus allen Weltregionen offen miteinander diskutieren, um zu nachhaltigen, effektiven und legitimierten Ergebnissen zu kommen, mag zwar utopisch klingen. Aber sollten wir nicht viel mehr Energie investieren, uns dieser Utopie anzunähern, als aus einem Gefühl der Ohnmacht oder Mutlosigkeit an Entscheidungsstrukturen festzuhalten, von denen wir wissen, dass sie uns nicht (auf dem effektivsten Weg) aus dieser Krise führen?

Fazit

Die folgenden Lernerfahrungen nehme ich von meinem Besuch auf der weltweit größten Messe für chemische Technik, Verfahrenstechnik und Biotechnologie, der ACHEMA 2022, mit.

  1. Die persönliche Vernetzung zwischen Lernenden und Praktizierenden aus der Forschung und aus der Wirtschaft ist unersetzlich.
  2. Als Sozialwissenschaftlerin in einem transdisziplinären Projekt, welches die technischen, regulatorischen und gesellschafts-politischen Aspekte von CO2-Nutzung zusammenbringt, werde ich häufig aus meiner Komfortzone gerissen – und das ist gut so!
  3. Aktuell werden komplexe Fragen (in der Öffentlichkeit) oft mit vermeintlich einfachen, polarisierenden Thesen beantwortet. Das Problem ist bekannt – eine effektive Lösung leider noch nicht.

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