Headline: Wirtschaftswachstum ohne BIP-Wachstum

GDP has no direct link to the satisfaction of needs and general welfare.
Das BIP hat keinen direkten Bezug zur Bedürfnisbefriedigung und allgemeinen Wohlfahrt. shutterstock_amenic181

Es mag paradox klingen, aber es ist möglich, dass die Wirtschaft wächst ohne dass das Bruttoinlandsprodukts (BIP) wächst, wenn wir die Definition von Wirtschaft so ändern, dass es um menschliches Wohlergehen, Grundwerte und intakte Natur geht, sagt Christian Felber, Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie.

Um die Rolle des Wachstums der Wirtschaft tobt ein erbitterter Kampf. Während Kritiker*innen, wie der britische Ökonom Tim Jackson, Degrowth oder Postwachstum fordern, scheinen neoklassische Ökonom*innen und Politiker*innen süchtig nach Wirtschaftswachstum zu sein. Ohne Wachstum, so befürchten sie, würde die kapitalistische Maschine ins Stocken geraten und die Wirtschaft sterben.
Dennoch suchen vier Premierministerinnen - von Island, Schottland, Finnland und Neuseeland - offiziell nach einem geeigneteren Nachfolger für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zur Messung des Wohlstands eines Landes.

Ein Grund, warum sich die Debatte so hartnäckig hält, ist die Unklarheit der zugrunde liegenden Schlüsselbegriffe. Die Wirtschaftswissenschaft bietet keine klare und allgemein akzeptierte Definition von "Wohlfahrt", ja nicht einmal von "Wirtschaft". Infolgedessen bleibt unklar, was genau gemeint ist, wenn wir von "Wirtschaftswachstum" sprechen, jenseits der Gleichsetzung von BIP-Wachstum mit Wirtschaftswachstum.

Geld wächst nicht auf Bäumen

Doch was mit dem BIP wächst, ist nicht unbedingt Getreide, Gemüse, Ernährungssicherheit, bezahlbarer Wohnraum, sinnvolle Arbeit, gesunde Ökosysteme oder gar Liebe und Frieden. Das BIP-Wachstum ist nichts anderes als eine Anhäufung von Markttransaktionen, die in Geld gemessen werden, wie etwa Produktion und Verkauf von Schokolade, Flugzeugen, Gebäudereinigung, Unternehmensberatung, Kohlekraftwerke oder Waffen, unabhängig davon, ob dies zum menschlichen Wohlbefinden und der ökologischen Stabilität des Planeten beitragen oder nicht.

Der Grund, warum Mainstream-Ökonomen sich auf das BIP konzentrieren und die Wirtschaft vernachlässigen, ist: Das BIP ist einfach zu messen. Es ist mathematisch exakt. Es hat jedoch keinen direkten Bezug zur Bedürfnisbefriedigung und allgemeinen Wohlfahrt, die das Ziel von Wirtschaft sind.

Wenn wir das Ziel von Wirtschaft als die Befriedigung der Grundbedürfnisse lebender und künftiger Generationen innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten und unter Berücksichtigung demokratischer Grundwerte wie Würde, Solidarität und Gerechtigkeit definieren, dann werden zahllose wirtschaftliche Aktivitäten nicht vom BIP gemessen, sie tragen aber zum Wachstum der - so definierten - Wirtschaft bei und schaffen „Mehrwert“.

Beispiele sind Kinderbetreuung und andere unbezahlte Arbeit, saubere Flüsse und Wälder, der Anbau eigener Kräuter, Nahrungs- und Heilmittel, die Stärkung von Gemeinschaften und sozialer Sicherheit und vieles mehr. All dies schafft realen Wert für reale Menschen, wird aber von Marktwirtschaftlern nicht berücksichtigt und auch nicht im BIP ausgewiesen. Theoretisch könnte das BIP bei Null liegen und alle diese Bedürfnisse wären erfüllt.

Wertschöpfende Ökonomien

Dies zeigt, wie unzureichend das BIP ist, wenn es um die Messung von menschlichem Wohlbefinden und nationale Wohlfahrt – das Gemeinwohl – geht. Aber es gibt Alternativen.

Ein Beispiel ist die Gemeinwohl-Ökonomie. Dieser Ansatz geht zurück zu den Grundlagen, indem er zunächst fragt: "Was ist Wirtschaft?". Er definiert das Ziel von Wirtschaft als Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ohne die Lebensgrundlagen zu verschlechtern und unter Wahrung demokratischer Werte. Die wirtschaftliche Erfolgsmessung wird auf dieses Ziel abgestimmt: An die Stelle des BIP rückt ein Gemeinwohlprodukt (CGP), dessen Zusammensetzung demokratisch festgelegt wird.

Dies könnte direkt von den Menschen durch einen Bürger*innenrat oder einen Wirtschaftskonvent geschehen. Die Menschen könnten in diesen Vorschläge für die relevantesten Facetten von Lebensqualität, einem guten Leben für alle oder dem Gemeinwohl machen. Von diesen Vorschlägen werden zum Beispiel die besten 20 in das endgültige Gemeinwohl-Produkt (GWP) oder den Gemeinwohl-Index (CWI) aufgenommen. Das Gemeinwohl-Produkt könnte mit neutralen Punkten und nicht in Geldwerten gemessen werden. Sein Ergebnis wäre sowohl zeitlich als auch räumlich vergleichbar.

In Zukunft könnten alle Entscheidungen der Wirtschafts- und anderer Politiken nach ihrem Beitrag zum Wachstum der (Gemeinwohl-)Wirtschaft und nicht nach dem BIP bewertet und getroffen werden.

Wenn zum Beispiel das Leben mit sauberen Flüssen, atembarer Luft, genügend Bienen und fruchtbarem Boden besser ist, könnte der Anbau von Lebensmitteln mit Hilfe von Agrarökologie oder Permakultur weniger Dollars generieren, aber die Summe gesünderer und glücklicherer Kinder und Erwachsener wird unser GWP erhöhen. Darüber hinaus könnten sich Gemeinschaften mit stärkerem Zusammenhalt effektiver umeinander kümmern als teure und BIP-steigernde persönliche Pflegedienste, um die Einsamkeit zu mildern.

Letztendlich ist es bei der Verwendung des GWP schlichtweg egal, ob das BIP steigt, schrumpft oder stagniert - dieses Maß wird irrelevant werden. Was zählt, ist die Verbesserung der Wirtschaft im weitesten Sinne des Wortes, mit zufriedenen Menschen, Gesellschaften, die florieren, Demokratien, die gestärkt werden, und Ökosystemen, die resilienter werden - all das spiegelt sich in einem steigenden GWP wider.

Die Befürworter*innen des BIP-Wachstums als Ziel der Wirtschaftspolitik irren daher in dreierlei Hinsicht:
•    Erstens legen sie keine genaue Definition der Wirtschaft vor, die über den monetären Wert  von Markttransaktionen hinausgeht.
•    Zweitens haben sie keine klar definierten Ziele für die Wirtschaft.
•    Drittens, als Konsequenz der beiden vorangegangenen Schwächen, gibt es keine präzise Methodik zur Messung des wirtschaftlichen Erfolgs.

Und es kommt noch schlimmer. Wir wissen, dass das BIP viele zerstörerische und schädliche Aktivitäten positiv bewertet, einschließlich der vielleicht schädlichsten von allen, der Produktion von Waffen und sogar Kriegen. Negativen Aktivitäten einen positiven Wert zu geben, ist methodisch fehlerhaft.

Die Illusion von "grünem Wachstum"

Dies verdeutlicht einen tieferen Grund, warum "grünes Wachstum" als Konzept zu kurz greift. Nicht nur, dass es keine empirischen Belege dafür gibt, dass der Ressourcenverbrauch in absoluten Zahlen vom BIP-Wachstum entkoppelt werden kann, das BIP umfasst auch viele Aktivitäten, die das soziale Gefüge und die Lebensgrundlagen zerstören. Grünes und inneres Wachstum ist jedoch im Rahmen der Gemeinwohl-Ökonomie möglich, die das menschliche Glück und die planetarische Gesundheit von den Ketten des BIP-Wachstums entkoppelt und befreit (siehe den neuen Bericht "Towards a wellbeing economy that serves people and nature", den das EEB und Oxfam Deutschland im Rahmen des Projekts "Klima des Wandels" erstellt haben).

Ein Gemeinwohl-Produkt hat auch andere Vorteile. Zusätzlich zu den herkömmlichen Finanzbilanzen könnten Unternehmen beginnen, eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen, in der sie berichten, was und wie viel sie zum Gemeinwohl-Produkt beitragen. Steuersätze, Marktzugang und der öffentliche Aufträge könnten an das Ergebnis der Gemeinwohl-Bilanz gekoppelt werden, um den Unternehmen einen Anreiz zu geben, das Gemeinwohl zu fördern.

Im Ergebnis würden die Waren und Dienstleistungen nachhaltiger und verantwortungsvoller Unternehmen preisgünstiger werden, während die Produkte unverantwortlicher und umweltverschmutzender Firmen teurer würden. Das bedeutet, dass Unternehmen nicht mehr in der Lage sein werden, einen Wettbewerbsvorteil durch die Externalisierung von Kosten zu erzielen, und die Verursacher*innen werden wirklich zahlen.

Bislang haben fast 1.000 Unternehmen und andere Organisationen - darunter auch Städte und Universitäten - ihre erste Gemeinwohl-Bilanz erstellt. Die Alternative breitet sich in immer mehr Ländern aus.

Auf der Mikroebene würden Banken, Fonds und Börsen eine Gemeinwohl-Prüfung vornehmen, bevor sie ein Projekt finanzieren, einen Fonds gründen oder ein Unternehmen listen. Sie könnten auf Basis ethischer Konditionen operieren: billigeres Geld für nachhaltiges Wirtschaften und teurere oder gar keine Kredite für weniger verantwortungsvolle Akteure.

Das Ergebnis dieses Zusammenspiels von Makro- und Mikroebene wäre eine grünere, nachhaltigere, integrativere, demokratischere und resilientere Wirtschaft. Als Nebeneffekt würden alle, nicht nur Ökonom*innen, endlich wissen, was wir meinen, wenn wir von "Wirtschaft" und "Wirtschaftswachstum" sprechen. Und niemanden, außer Statistiker*innen, würde es interessieren, ob das BIP wächst, schrumpft oder konstant bleibt.


Dieser Artikel wurde erstmals am 18. Mai 2021 auf der Website des Europäischen Umweltbüros veröffentlicht.

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