Headline: Infokrieg. Fehlwissen als Ressource politischer Mobilisierung

"I can't believe we're marching for facts!" - Fridays For Future Demonstration in Bonn.
"I can't believe we're marching for facts!" - Fridays For Future Demonstration in Bonn, 2021-03-19. Photo by Mika Baumeister on Unsplash.

„Stop the steal!“, „Plandemie“, „Klimalüge“ - drei Schlagwörter, die für eine unheimliche politische Dynamik stehen: in den letzten Jahren ist die politische Mobilisierung von Fehlwissen zu einer relevanten und zum Teil bestimmenden Größe geworden. Nachweislich falsches Wissen, das von einer Gruppe für wahr gehalten wird, wurde zum Dreh- und Angelpunkt politischer Auseinandersetzungen. Die Strategie ist dabei über die verschiedenen Themen hinweg die gleiche: gesichertes Wissen wird in Frage gestellt und durch widersprechende Erzählungen relativiert. Das Infragestellen dieses Fehlwissens gilt dann als Angriff auf die Meinungsfreiheit und Beleg der „Meinungsdiktatur“. Im Zusammenspiel von sozialen Medien und Protesten auf der Straße hat diese Strategie in den letzten Jahren eine neue Dynamik angenommen, auf die es bislang keine überzeugende Antwort gibt.

In den USA hat die Erzählung von der Manipulation der Präsidentschaftswahlen dazu geführt, dass demokratische Prozesse nicht nur in Frage gestellt, sondern mit Gewalt unterbrochen wurden. Mehr als die Hälfte der republikanischen Wähler:innen glaubte, nicht Biden sondern Trump hätte die Wahlen gewonnen oder zweifelte an den offiziellen Ergebnissen. Trump und seine Unterstützer:innen streuten immer wieder Anekdoten angeblicher Wahlfälschung, die sich im Faktencheck als unwahr herausstellten, sich aber bei den Trump-Getreuen als Wissen festsetzten. Mit dem Angriff auf die demokratischen Verfahren zur Bestätigung der Wahlergebnisse, der in der tödlichen Attacke auf das Kapitol gipfelte, haben die USA erlebt, wie zersetzend Fehlwissen ist, wenn es zum Identitätskern einer politischen Bewegung gehört.

In den USA stehen auch die Haltung zur Klimakrise und zum Tragen von Masken zum Schutz vor dem Corona-Virus signifikant mit der Parteineigung in Zusammenhang. Diese Parteilichkeit des Wissens erleben wir hierzulande nicht. Aber schon früh gab es auch in Deutschland Warnungen vor einer politischen Mobilisierung der Klimawandelskepsis und Projekte wie Klimafakten, die entsprechenden Thesen den Stand des gesicherten Wissens gegenüberstellen, entstanden als Reaktion auf diese Herausforderung. Heute zeigt sich, dass Fehlwissen zur Klimakrise und – im letzten Jahr besonders offensichtlich - zur Covid-19-Pandemie zu einer Ressource politischer Mobilisierung geworden ist (Radtke et al. 2020). Ein Netzwerk von Akteuren, die die Klimakrise als Illusion entlarven will, und dem wissenschaftlichen Konsens der menschengemachten Erderwärmung Experten gegenüberstellt, die Zweifel anmelden, munitioniert auch hierzulande politische Initiativen und agiert im Bündnis mit der AfD. Die AfD versucht sich auch als politische Repräsentantin der „Querdenken“-Proteste zu inszenieren. Gerade die Aktionen gegen die Corona-Maßnahmen haben aber gezeigt, dass das verbreitete Fehlwissen über Impfstoffe und die Wirksamkeit von Masken politisch deutlich breiter streut. Die Idee einer „Plandemie“, einer inszenierten Krise mit dem verdeckten Ziel der Einschränkung demokratischer Freiheiten, hat sehr unterschiedliche Gruppen politisiert und radikale Zweifel an demokratischen Institutionen und Prozessen gesät.

Eine neue Medienkonstellation

Diese Entwicklung geht auf eine neue soziotechnische Konstellation zurück, in der soziale Medien die Form, in der wir Wissen auffinden und bewerten, grundlegend verändert haben. Schon früh haben Kommunikationsforscher:innen analysiert, wie auf Plattformen wie Youtube und Facebook sich selbst bestätigende Teilöffentlichkeiten entstehen – mit weitreichenden Folgen für den demokratischen Diskurs. Die Kommunikation in abgeschlossenen Gruppen und die Auswahl angezeigter Inhalte durch auf Profitmaximierung ausgerichtete Algorithmen hat auf der einen Seite marginalisierten Gruppen neue Möglichkeiten eröffnet: die Verbindung über große Entfernungen hinweg und den Austausch von Wissen und Erfahrungen. Auf der anderen Seite haben sich aber auch Hassgemeinschaften gebildet und Gruppen, die Fehlwissen erzeugen und verbreiten. In diesen neuen Online-Gemeinschaften wird Wissen durch gegenseitige Versicherung für wahr erklärt. Durch Auswahl und Kommentierung von Nachrichten und anderen Wissensquellen entstehen innerhalb kurzer Zeit kollektiv geteilte Überzeugungen, die politisch mobilisierbar sind: sie werden mit einer Gruppenzugehörigkeit und mit Forderungen verbunden und dann in kollektive Handlungen überführt.

Epistemischer Widerstand

Gerüchte, Halbwahrheiten und Fehlwissen waren immer schon gewichtige Faktoren in der politischen Auseinandersetzung. Seit sie sich aber vermittelt über soziale Medien zu politischen Positionen verdichten und auf die Straße gebracht werden, ist Fehlwissen gleichzeitig gemeinschaftsstiftender Kitt und Handlungsmotivation geworden. Wer dieses Wissen teilt, gehört dazu; Proteste und Kundgebungen werden damit zu Inszenierungen einer online entstandenen Gemeinschaft im real life. Carolin Amlinger (2020) hat diese Haltung „epistemischer Widerstand“ genannt. Man wähnt sich im Infokrieg um eine unterdrückte Wahrheit und liest Widerspruch als Zeichen eines Totalitarismus, der mit dem Nationalsozialismus oder dem SED-Regime gleichgestellt wird. Diese Erzählung verbindet die rassistische Protestwelle von Pegida mit den Protesten in der Pandemie. Wie vor fünf Jahren bei den Pegida-Protesten zeigt sich auch heute bei „Querdenken“-Demonstrationen eine Offenheit für Verschwörungsglauben: bei Pegida sahen viele hinter der Einwanderung von hunderttausenden Geflüchteten einen von den Eliten gesteuerten „großen Austausch“, die Covid-19-Pandemie wird von einigen Querdenker:innen als Schachzug von Bill Gates gesehen, um die Menschheit mit Mikrochips zu kontrollieren. Fehlwissen kann mit Verschwörungsglauben zusammengehen, tut es aber nicht notwendig. Damit stellt sich ein neues Problem: Beim Widerstand gegen Klimaschutzmaßnahmen und bei den Protesten gegen staatliche Corona-Regelungen vermischen sich Fehlwissen, also nachweisbar falsches Wissen, und Skepsis. Nicht jeder Mensch, der die Bedrohung durch Klimaveränderungen in Frage stellt, bezweifelt auch die wissenschaftlichen Grundlagen. Und nicht jede:r auf einer „Querdenken“-Demonstration bezweifelt, dass wir uns in einer pandemischen Situation befinden. Dass sie aber alle von außen so wahrgenommen werden und als „Klimawandelleugner“ oder „Covidioten“ bezeichnet werden, führt zu einer Schließung, die wiederum konspiratives Denken wahrscheinlicher macht. So wird der professionelle Journalismus zum Teil des Problems erklärt und erscheint als Handlanger sinistrer Eliten. Das gemeinsame Erleben im Protest bestärkt die online entstandene Gemeinschaft: polizeiliche Maßnahmen und Gegenproteste werden von den Teilnehmenden als Bestätigung wahrgenommen. Diese Wagenburgmentalität bestärkt das Selbstverständnis als Widerstandskämpfer:innen und legitimiert gerade bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen Gewalt gegen Polizei, Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen als Reaktion auf Angriffe von Außen. Das „Querdenken“-Umfeld hat in dieser Hinsicht einen rasanten Radikalisierungsprozess durchgemacht. Bestrafungs- und Tötungsphantasien gegenüber den genannten Gruppen waren schon sehr früh in Telegram- und Facebook-Nachrichten zu lesen. Mittlerweile gibt es kaum eine größere Demonstration, bei der es nicht zu solchen Übergriffen kommt. Der epistemische Widerstand ist also nicht nur Ausdruck eines generalisierten Misstrauens gegenüber den als uniform gesehenen demokratischen Institutionen, sondern auch eine Legitimationsressource für Handeln außerhalb demokratischer Spielregeln.

Was tun?

Wer am demokratischen Diskurs interessiert ist, steht im Umgang mit mobilisierten Fehlwissen vor einem Dilemma. Auf der einen Seite gelten gleiche Rechte auch für abstruse Haltungen und Demokratie lebt vom Widerspruch und Kritik an den Mächtigen. Auf der anderen Seite findet der Austausch nicht auf der gleichen Grundlage statt. Wer die Bundesrepublik zur Diktatur erklärt und von Tribunalen gegen Virolog:innen schwadroniert, hat den demokratischen Diskurs hinter sich gelassen. Was kann man also tun?

Eine Konsequenz aus dem genannten Dilemma ist die Arbeit an Grenzen. Es ist wichtig, zu benennen, wenn Grenzen überschritten werden. Wenn sich Teilnehmende auf „Querdenken“-Demonstrationen mit den im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden vergleichen, muss diese Verharmlosung als sekundärer Antisemitismus benannt werden. Wenn Klimawandelzweifler:innen wissenschaftliche Erkenntnisse falsch darstellen, darf das nicht als eine „kontroverse Meinung“ stehen gelassen werden. Gleichzeitig muss auch gelten, dass Grenzüberschreitungen einzelner nicht einer Gruppe angelastet werden. Wenn sich allerdings die Befürwortung von Gewalt oder Verschwörungserzählungen bei einer Demonstration häufen, dann schaffen andere Anwesende einen Resonanzraum, wenn sie sich nicht dazu verhalten.

Journalist:innen und zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Fehlwissen mit Faktencheks offenzulegen, schaffen eine wichtige Voraussetzung für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem. Allerdings schlägt auch hier das Problem abgeschlossener Kommunikationsräume durch: zu denjenigen, die sich im Widerstand wähnen, dringen solche Richtigstellungen seltener durch und sie verbreiten sich nicht mit der gleichen Dynamik wie das Fehlwissen selbst.

Auch alle anderen haben eine Verantwortung im Umgang mit Wissen. Es gilt, einer selektiven Aneignung von Wissen, das zur eigenen Argumentation passt, zu widerstehen. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, dass Wissenschaft immer unabgeschlossen und zum Teil widersprüchlich bleibt. Darüber hinaus sollten alle bewusst mit den Bedingungen der Produktion, Verbreitung und Validierung von Wissen umgehen und das eigene „gefühlte Wissen“ (Renn 2019) reflektieren. Nur wenn die Grenzen von Wissen und Wissenschaft deutlich werden und wenn die politischen und moralischen Schlüsse davon transparent getrennt werden, wird es eine gemeinsame Grundlage für eine demokratische Auseinandersetzung geben.

Amlinger, Carolin. „Über das Querdenken. Der epistemische Widerstand der Corona-Proteste“. Zeitschrift für Fantastikforschung 8, Nr. 1 (2020): 20–26. https://doi.org/10.16995/zff.3415.

Radtke, Jörg, Emily Drewing, Jenny Zorn, und Miranda Schreurs. „Doubt Every Crisis! Klimawandelleugnung in Zeiten Der Pandemie“. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 33, Nr. 4 (2020): 815–28. https://doi.org/10.1515/fjsb-2020-0072.

Renn, Ortwin. Gefühlte Wahrheiten: Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung. 2. Auflage, Revidierte Ausgabe. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich 2019.

Kommentare

Gerd Voslamber am 01.02.2022 - 12:08

Jede politische Partei ist eine sich selbst bestätigende Teilöffentlichkeit.
Ich bin zufällig auf diese Website gestoßen und lese Ihren Beitrag so, dass auch Sie sich in einer - wenn auch weiter gefassten - solchen Teilöffentlichkeit befinden. Vielleicht ist es auch gar nicht möglich, sich von solchen Blasen völlig zu befreien, wenn man nicht in Beliebigkeit verfallen will.
Nach meiner Wahrnehmung sind auch alle etablierten Medien solche mehr oder weniger abgeschlossenen Systeme, die vor der Etablierung der sozialen Medien allein die Möglichkeit zur Manipulation der Bevölkerung besaßen und in letzteren jetzt eine unliebsame Konkurenz sehen.
Unbestritten unerträglich sind natürlich die Extreme auf allen Seiten und in allen Medien.
Es ist schwer hier objektive Kriterien zu finden, ab wann denn etwas extrem ist.
Vielleicht sollte es der ganz normale Anstand sein, der aber auch sehr subjektiv aufgefasst werden kann.
Dann bleibt natürlich noch die Straftat einschließlich Mobben.
Und meine eigene Denk-Blase? - Z. B. bin ich entsetzt darüber, dass es in keiner einzigen deutschen Großstadt eine Siegfrid-Buback-Straße gibt.
Mit freundlichen Grüßen
Gerd Voslamber

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