Headline: Reporting und Accounting: regulatorische Zwillinge?

Felber und Heller
Christian Felber und Christian Heller Robert Gortana | Christian_Heller

Reflexionen zu einem Gespräch mit Christian Heller beim „Summer of Purpose“ in München

In der gegenwärtig dominanten Wirtschaftswissenschaft, der Neoklassik, sind Schäden an der Gesundheit und dem Leben von Menschen, Tieren, Pflanzen und Ökosystemen durch kapitalistische Marktwirtschaften nicht vorgesehen. Sie treten stattdessen unvorhergesehen auf und werden als „Externalitäten“ gehandelt.

Zugleich gibt es ein Spektrum politischer Strategien wie mit solchen Externalitäten umgegangen werden kann:

  1. Appell an freiwilliges Wohlverhalten von Unternehmen (CSR)
  2. Anreizpolitik – etwa Steuern auf Treibhausgase
  3. Ordnungspolitik wie der Atomausstieg, das Verbot von Pestiziden oder Einweg-Plastikverpackungen.

Zwei weitere, weniger offensichtliche Strategien sind indes Reporting und Accounting. Beide gewinnen aktuell an Bedeutung und haben gemeinsame Wurzeln: Accounting ist die gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung finanzieller Kennzahlen. Die dafür anzuwendenden Instrumente wurden gesetzlich standardisiert – in der Gewinn- und Verlustrechnung oder der Finanzbilanz. Dagegen handelt Reporting von der Publizität nichtfinanzieller Informationen, die ein breites Themenspektrum abdecken können wie etwa Menschen- und Arbeitsrechte, Umwelt- und Klimaschutz, sozialer Zusammenhalt, Verteilungsgerechtigkeit, Diversität oder Antikorruption. Die Veröffentlichung dieser Informationen ist bis heute weitgehend freiwillig, und die Standards für Nachhaltigkeitsberichte – so genannte NFI-Rahmenwerke – so unterschiedlich wie Baustile.

Beim Münchner „Summer of Purpose“, einem Anfang Juli vom Grameen Creative Lab organisierten Treffen von Führungskräften zur Verbesserung der Welt, führte ich mit Christian Heller, dem Leiter der von BASF initiierten Value Balancing Alliance (VBA), eine Diskussion über beide Ansätze: Die VBA entwickelt den Accounting-Ansatz weiter, indem sie nichtfinanzielle Risiken in finanzielle übersetzt. Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) hingegen verfolgt den Ansatz der systematischen Erfassung von Externalitäten in Berichten, ihrer Bewertung in Punkten und die Knüpfung von rechtlichen Anreizen an das Punkteergebnis.

Die methodischen Unterschiede sind relevant: Die VBA setzt auf Monetarisierung von nichtfinanziellen Risiken – wie zum Beispiel Umweltschäden – weil in der gegenwärtigen Wirtschaftswelt die Sprache der Finanzkennzahlen am besten verstanden wird: Viele  Entscheiderinnen und Entscheider erkennen ein Umwelt- oder Gesundheitsrisiko erst, wenn es in der Bilanz negativ zu Buche schlägt.

Das Problematische an diesem Ansatz: Immateriellen Werten wie Gesundheit, Würde einer Spezies oder die Stabilität eines Ökosystems muss ein monetärer Preis zugeordnet werden. Das ist nicht nur knifflig – etwa bei Fragen nach wie teuer kommt die Emission einer Tonne Kohlendioxyd?  Es ist ein ethisches Grundsatzdilemma: Macht es Sinn, die Verletzung von Menschenrechten, die Versauerung der Meere oder die Auslöschung einer Art mit einem Preis zu versehen?

Neben der Umwandlung des Lebens in Waren, der „Entweihung des Heiligen“, würde dieser Ansatz Ethik zum Kalkül machen: Rentiert es sich, etwas mehr Umwelt kaputt zu machen oder die Arbeitsrechte außer Acht zu lassen?

Der Reporting-Ansatz der GWÖ löst diese ethischen Dilemmata anders: Externalitäten werden erfasst, beschrieben, bewertet und mit Punkten versehen – positiv wie negativ. Am Ende einer „Gemeinwohl-Bilanz“ steht ein Punkteergebnis von minus 3600 bis plus 1000 Punkten. Dieses Ergebnis kann an Anreize geknüpfte werden: Steuern, Zinsen, Zölle oder Vor- und Nachrang beim öffentlichen Einkauf und in der Wirtschaftsförderung. Ziel ist, dass das Externalisieren von Kosten zu Wettbewerbsnachteilen führt und unrentabel wird. Hingegen soll das Externalisieren von Nutzen über gute Gemeinwohl-Bilanzergebnisse und daran geknüpfte Anreize zu niedrigeren relativen Preisen und damit zum unternehmerischen Erfolg führen.

Christian Heller und ich diskutierten im Workshop, ob beide Ansätze komplementär wirken könnten. Wir waren uns einig, dass das Ziel dasselbe ist: Ein erhöhter CO2-Ausstoß kann direkt als buchungspflichtiger Kostenfaktor in die Finanzbilanz einfließen – oder er kann in einem NFI-Bericht transparent dargestellt werden und zu höheren Steuern und anderen Anreizen führen. Im Idealfall wäre das Ergebnis in beiden Fällen dasselbe.

Der Gesetzgeber hat die Wahl, Kohlenstoff mit einem festen Preis in das Finanzbuchhaltungssystem aufzunehmen oder über die Aufnahme in das NFI-Reporting anreizpolitisch zu steuern. Darüber hinaus kann er bestimmte Praktiken, Geschäftsmodelle, Technologien oder Produkte per Ordnungspolitik verbieten. Eine systematische Vorgangsweise könnte darin bestehen, dass neu erkannte Externalitäten – wie beispielsweise bisher unerkannte psychische oder physische Beeinträchtigungen durch Produkte – zuerst in das NFI-Reporting aufgenommen werden. Schon hier gibt es die Wahl zwischen reiner Berichtspflicht und Sanktionierung durch Anreize. Sollte der wissenschaftliche Informationsstand entweder in Richtung klare Kostenzuordnung oder Gefährdung von Gesundheit, Leben oder Ökosystemen entwickeln, hat der Gesetzgeber die Option, die „Externalität“ in das Accounting oder in die Ordnungspolitik zu verschieben. Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, den Einzelfall anreizpolitisch zu lösen, etwa in Form einer Tabak- oder Kohlenstoffsteuer. Im Gesamtbild steht dem Gesetzgeber eine differenzierte und flexible Klaviatur zur Verfügung, die er bewusst bespielen und fachgerecht ausreizen sollte.

Christian Felber war 2018 Senior Fellow am IASS und ist seit 2019 Affiliate Scholar. Über den Inkubator leitet er ein Forschungsprojekt zur Gleichstellung von Finanz- und Wertebilanz. Er hat die internationale Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung initiiert und ist Autor von 15 Büchern, zuletzt: „This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft“.

Kommentare

Gast am 21.09.2020 - 09:21

https://www.hm-practices.org/

Die im Artikel von Christian Felber postulierte Gleichwertigkeit von VBA und GWÖ lässt einige Fragen offen.
VBA beansprucht, ‘accountability' zu sein. Ist es aber nicht.
Echte Accountability geht in die Buchführung ein, führt zu Auswirkungen auf die Gewinn- und Verlustrechung und ggf. zu Rückstellungen. "Accounting ist die gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung finanzieller Kennzahlen.” schreibst Du. Das genau visiert VBA nicht an.

Die VBA macht rein informatorische monetäre Bewertungen, die jedoch gründliches Insider-Wissen voraussetzen, um Mitdenken zu können (z.B. welcher Preis für CO2 Emissionen wird benutzt). Dies ist als Information nützlich, zumal sie auch die Wirkungen auf Lieferant*innen und Kund*innen mit darstellen. Sie hat aber Löcher, insoweit sie Schadwirkungen ohne glaubwürdige monetäre Bewertbarkeit einfach unterschlägt. Und das hauptsächliche Loch ist die Wirkungslosigkeit.
Siehe die Kritik an der VBA in https://www.hm-practices.org/forschung/basf-value-to-society-und-die-gemeinwohl-bilanz-von-basf/
Um in einer Gemeinwohl Bilanz eine hohe Punktzahl zu erreichen muss ein Unternehmen bereits in der berichteten vergangenen Praxis eine hohe ethische Sorgfalt gezeigt haben und Entscheidungen getroffen haben, die zu nachprüfbaren Ausgaben geführt haben. Die Bewertung der Gemeinwohl Bilanzierung setzt bereits heute ein Handeln in der Praxis voraus. Die VBA ist hingegen ein reines Rechenexempel, das die unternehmerische Praxis nimmt, wie sie ist und in keiner Weise verändert. Mit Luftbuchungen wird die Wirtschaft nicht transformiert. Die VBA würde nur dann mit der GWö in der heutigen Wirkung gleichziehen, wenn die Luft-Buchungen zu Handlungen in der unternehmerischen Praxis führen würden, wenn z.B. die errechnete Belastung mit CO2 Emissionen zu einer kostenwirksamen Kompensation führen würde.

Die VBA ist keine ‘accountability' sondern eine 'would-be-accountability'. Unterstellen wir, die politische Macht agiert mit einer größeren ethischen Willens-Aufladung. Könnte dann durch das Regierungshandeln eine Buchführungspflicht eingeführt werden, die ökologische Schäden verbindlich in die Bilanzen aufnimmt und z.B. zu Rückstellungen führt, wie das im Falle von Prozess-Risiken gemacht wird, die dann zu Gewinnwarnungen und zu Kurs-Reaktionen am Aktienmarkt führen?

Eher nicht. Bisher werden nur echte finanzielle Risiken mit einer legalen Durchsetzbarkeit in die Bilanzen als Rückstellungen aufgenommen, weii sie zu echten Auszahlungen führen könnten.
Alles andere findet in der Welt des Berichtens statt, wie zum Beispiel das 'profit and loss accounting' von Puma. Das wurde mit einigem Recht als ‘accounting’ bezeichnet, korrekterweise als ‘internal accounting', es war zwar auch rein informativ und ohne gesetzliche Grundlage und hat nicht zu Rückstellungen geführt. Das Unternehmen hat aber die Datenlage in Entscheidungen einfliessen lassen.
Einige Unternehmen wie Microsoft verwenden interne Buchhaltungsregeln, um einen Preis für CO2-Emissionen festzulegen. Und dies ist für Manager insofern real, als es zu realen Ausgaben in ihren internen Budgets führt. Daher beeinflusst es Entscheidungen auf Abteilungsebene, auch wenn es keine Relevanz für die Finanzbuchhaltung des Unternehmens hat.
Ich kenne keine politische Regelung, die ein Unternehmen dazu veranlassen würde, ein Risiko in die Buchführung zu integrieren, wenn keine Sanktion oder Konsequenz in Sicht ist, die zu einem realen finanziellen Aufwand führen könnte.

Accountability ist ein schillernder Begriff, der meist nur Information und Erklärung vergangener Handlungen meint. Die GWÖ ist mehr als Erklärung und Information, sie ist Bewertung und will zu Rechtsfolgen führen. Damit will sie über die informative Accountability hinausweisen zur Financial Accountability. Und nur das hat Wirkung in wirtschaftlichen Entscheidungen.
Deshalb sind die Methoden der Gemeinwohl-Bilanzierung und die Value-Balancing Methode von BASF keine regulatorischen Zwillinge.

Im Anschluss einige semantische Klärungen
Ein Beispiel für Accountability mit Mangel an echten Wirkungen wird hier angesprochen:
"Liz Plank, a journalist and NBC News host, expressed exasperation at how Trump has eluded true accountability for his alleged past conduct as a serial sexual assailant. “I’ve run out of ways to explain why it is upsetting that the president of the United States is a man who has been accused of having spent much of his adult life hurting women,” she wrote. “In any other news cycle – and any other reality – this should be big news - the least we can do is to force ourselves not to become numb to the accusations.”
https://www.theguardian.com/us-news/2020/sep/18/amy-dorris-donald-trump-sexual-assault-allegation
Ausserdem:
https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/accountability
a situation in which someone is responsible for things that happen and can give a satisfactory reason for them:
The organization suffers from a lack of accountability.
greater/increased/more accountability The public has been demanding greater accountability from lawmakers.
Financial accountability
responsibility for the way money is used and managed:
The budget is an important part of financial accountability and the final accounts often include budgetary information.
Wikipedia: Rechenschaft ist ein in vielen Fachgebieten unterschiedlich verwendeter Begriff, mit dem allgemein die Erklärung eines sozialen Akteurs über dessen vorausgegangenen Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen verstanden wird.

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