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Headline: Eine liebevolle Antwort auf die Krise der Zivilisation

Daejeo Ecological Park, Südkorea, 2016
Daejeo Ecological Park, Südkorea, 2016 Appleysj CC BY-SA 4.0

Wir stehen vor zwei Herausforderungen: der Schaffung einer gerechteren, fürsorglicheren Welt und der Anpassung an einen bevorstehenden gesellschaftlichen Kollaps. Was, wenn wir beides miteinander kombinieren würden?

Vergangene Zivilisationen bestanden im Durchschnitt rund 336 Jahre. Und momentan wird den meisten Menschen klar, dass die moderne Zivilisation höchst unnachhaltig geworden ist. Trotzdem begreifen viele nicht, dass wir auf einen zivilisatorischen Kollaps zusteuern: Die heutige Zivilisation wird immer komplexer, die sozialen Ungleichheiten vertiefen sich, die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt werden immer drastischer, und das Klima verändert sich. Wenn diese vier Indikatoren alle gleichzeitig steigen, wächst auch die Wahrscheinlichkeit für einen Kollaps.

Der Kollaps der modernen Zivilisation wird einen entscheidenden Moment in der Geschichte der Menschheit darstellen. Denn wir stehen am Scheideweg zwischen zwei Zukunftsszenarien: dem Großen Übergang und dem Großen Zusammenbruch. Der Große Übergang beschreibt eine Zukunft, in der die Gesellschaft ganzheitlich umgestaltet ist, sodass sie in einem dynamischen Gleichgewicht zu den natürlichen Systemen der Erde fortbestehen kann. Die Menschen haben noch nie zuvor eine Gesellschaft auf so hohem Komplexitätsniveau nachhaltig organisiert. Doch nun könnte es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit möglich werden, in einer global verknüpften, technologisch fortschrittlichen und nachhaltigen Zivilisation – manchmal ökologische Zivilisation genannt – zu leben.

Andererseits fehlt uns möglicherweise die kollektive Fähigkeit oder der kollektive Wille zu einem rechtzeitigen Übergang, der den Kollaps abwenden könnte. Anstatt dass wir den Großen Übergang einleiten, könnte uns der Große Zusammenbruch bevorstehen. Das explosive Wachstum der modernen Zivilisation ist ein historisches Ereignis, das auf der Nutzung billiger, tief unter der Erde liegender Energiereserven beruht. Inzwischen ist die menschliche Gesellschaft derart groß und komplex geworden, dass wir nicht mehr in der Lage sind, sie mit der weiteren Nutzung fossiler Brennstoffe aufrechtzuerhalten.

Ohne nachhaltige Alternativen zur derzeitigen Weltordnung wird der große Zusammenbruch Wirklichkeit werden. Bei den aktuellen Anstrengungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen wird es in diesem Jahrhundert schätzungsweise zu einem Temperaturanstieg von 3 bis 4 Grad Celsius kommen. Laut Fachleuten ist dies nicht mit einer organisierten globalen Gemeinschaft zu vereinbaren. Der daraus folgende Kollaps der globalen Systeme wäre absolut katastrophal. Manche von uns würden diesen Kollaps zwar überstehen, doch wir würden in einer von sozialem Zerfall und Konflikten gebeutelten Welt leben, in der extrem ungleiche Gesellschaften um Ressourcen kämpfen müssten.

Die beiden Visionen – Großer Übergang und Großer Zusammenbruch – sind klar und weitblickend. Beide haben einen gewissen Wahrheitsgehalt, und in mancherlei Hinsicht sind der Große Übergang und der Große Zusammenbruch bereits im Gange. Unsere Welt liegt im Sterben, und die neu entstehende Welt wird womöglich schöner und gleichzeitig chaotischer sein als die heutige Welt. Manche Menschen akzeptieren, dass der Kollaps unausweichlich ist, und arbeiten auf eine tiefgreifende Anpassung hin; andere wiederum akzeptieren, dass ein nichtlinearer sozialer Wandel möglich ist, und streben eine tiefgreifende Veränderung an. Es ist jedoch naiv zu denken, nur einer dieser beiden Ansätze wäre richtig.

Allzu oft werden die Anstrengungen für einen Aufbau von Widerstandsfähigkeit von jenen für einen Wandel der Zivilisation voneinander getrennt: Manche Menschen arbeiten auf die Anpassung an einen sozialen und ökologischen Zusammenbruch hin, bieten dabei jedoch keine zivilisatorischen Alternativen; andere konzentrieren sich auf eine Änderung der Systeme, lassen dabei aber den tiefgreifenden Umbruch außer Acht. Doch was wäre, wenn unsere Anstrengungen für die Schaffung einer gerechteren, fürsorglicheren Welt nicht getrennt von unseren Anstrengungen für die Anpassung an einen bevorstehenden gesellschaftlichen Kollaps erfolgen würden? Was wäre, wenn wir Umfang und Tiefgang des erforderlichen Wandels akzeptieren und zugleich anerkennen würden, dass wir uns – selbst wenn wir an manchen Stellen versagen – noch immer auf eine Art und Weise verändern können, die inmitten des Chaos allen Menschen zugutekommt?

Unser Vorschlag lautet wie folgt: Wir sollten beide Realitäten akzeptieren. Wir müssen den Menschen helfen, das Leiden des Großen Zusammenbruchs nicht aus den Augen zu verlieren, und uns gleichzeitig dafür engagieren, dass alle Menschen weitermachen können – nicht nur für das reine Überleben, sondern auch für die Vision einer besseren Welt und für deren Verwirklichung in Form des Großen Übergangs. Wie könnte dies erreicht werden?

Viele – vielleicht sogar alle – unserer aktuellen sozialen und ökologischen Krisen erfordern von uns die Fähigkeit, sich anzupassen, und die Fähigkeit, zu kreieren. Wir müssen uns selbst und unsere Gemeinschaften dabei unterstützen, auf den Kollaps mit spiritueller Integrität und einer positiven Vision zu reagieren; und wir brauchen einen integrierten Ansatz, der im Aktivismus, in der Forschung und in der Organisation tätige Menschen darauf vorbereitet, die Hoffnung aufrecht zu erhalten und zugleich die Tiefen des Leidens zu ergründen – um letzteres umzuwandeln. Dies betrachten wir als das Herzstück des spirituellen Aktivismus. Dieser wird dadurch angetrieben, dass den Menschen geholfen wird, ihren Sinn für Beziehungen zurückzuerlangen, ihre Fähigkeiten zum Umgang mit Komplexität auszubauen, zu lernen, wie Ungerechtigkeit und Schaden geheilt wird, von einer besseren Welt zu träumen und so zu handeln, dass diese bessere Welt Wirklichkeit wird.

Oft beschränken sich die einzelnen Reaktionen angesichts des Kollaps auf sehr spezifische Aspekte – aufgrund eng gefasster Theorien der Veränderung, aufgrund disziplinärer und nationaler Grenzen und in einigen Fällen aufgrund von Identitätspolitik. Diese Zerklüftung spiegelt ein tiefer liegendes Problem wider: eine Krise in der Wahrnehmung der menschlichen Natur, unserer Beziehungen zueinander und der Welt.

Die kulturell dominierende Weltanschauung, die heutzutage vorherrscht, basiert auf einem grundlegenden Dualismus und einer atomistischen Sicht des Lebens, die Individualismus und Unabhängigkeit höher einstuft als gegenseitige Abhängigkeit. Diese Sicht des Getrennt- oder Andersseins beeinträchtigt die Art und Weise, in der wir aufeinander und auf das nichtmenschliche Leben um uns herum zugehen. Sie erst macht es möglich, dass scheinbar willkürlichen Kategorien ein höherer kultureller Stellenwert beigemessen wird als anderen: Männlich steht höher als weiblich, Geist höher als Körper, Vernunft höher als Gefühl, Universelles höher als Einzelnes, Mensch höher als Natur, „zivilisiert“ höher als „primitiv“. Historisch gesehen hat dies zu den schlimmsten Formen von Ungerechtigkeit geführt, darunter Sexismus, Rassismus, Kolonialismus und Umweltzerstörung. Außerdem wurde damit Unterdrückung, Ausbeutung, Extraktivismus und die Entwertung des Lebens im Allgemeinen ermöglicht.

Will man den Kollaps der modernen Zivilisation positiv angehen, erfordert dies somit die Abkehr von einer Weltanschauung, die auf Trennung und Dualismus basiert, und eine Hinwendung zu einer Weltanschauung der ökologischen Systeme, die auf gegenseitigen Verbindungen beruht. Diese systemische Sichtweise bietet uns aktuell das beste Verständnis der Natur, doch ihre Umsetzung erfordert nicht nur intellektuellen Einsatz und Reflexion, sondern eine grundlegende Änderung der Art und Weise, wie wir die Welt erleben und mit ihr in Verbindung treten. Wir brauchen somit nicht nur einen Gesinnungswandel, sondern auch ein neues Verständnis darüber, wie Wandel überhaupt erfolgt.

Wir brauchen neue Kulturen der Praxis, die persönliche und soziale Veränderung miteinander verbinden, ohne dabei eine künstliche Kluft zwischen Innerem und Äußerem aufrechtzuerhalten, so als ob dies zwei völlig verschiedene Bereiche wären. Die systemische Sichtweise ermöglicht es uns, das Nichtgetrenntsein dieser Bereiche sowie der Notwendigkeit fürsorgebasierter Systeme und Strukturen zu verstehen, die die Qualität unserer Beziehungen zueinander, zu nichtmenschlichem Leben und zum Lebenszyklus der Natur fördern.

Die systemische Sichtweise ruft uns dazu auf, die den Krisen zugrunde liegenden Ursachen anzugehen sowie innerhalb und zwischen verschiedenen Perspektiven Muster zu erkennen, anstatt nur die Symptome unserer Krisen zu bekämpfen. Soziale und ökologische Krisen sind zusammenhängende Phänomene mit zum Teil gemeinsamen Wurzeln. Wenn wir die Krise unserer Zivilisation angehen wollen, müssen wir die Überschneidungen mehrerer Probleme erkennen. Die Flüchtlingskrise zum Beispiel wird teilweise durch den Klimawandel hervorgerufen: Die Trockenheit verringert die Ernteerträge, die Arbeitslosigkeit steigt, soziale Instabilität und Konflikte verstärken sich und es entsteht Migration in großem Maßstab. Die Flüchtlingskrise kann daher nicht mit dem Bau von Mauern gelöst werden, sondern sie muss mit einem ganzheitlichen systemischen Ansatz angegangen werden.

Auf ein Verständnis der tiefer liegenden Ursachen des Leidens muss ein Prozess der Heilung folgen, damit Beziehungen zurückgewonnen und wiederhergestellt werden. Die Natur existiert über ein Kontinuum von Beziehungen hinweg: Die Art und Weise, wie wir einander behandeln, spiegelt sich in der Art und Weise wider, wie wir nichtmenschliches Leben behandeln. Wenn wir endlich nicht mehr abstreiten, dass der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung darstellt, müssen wir seine tieferliegenden Ursachen betrachten und mit der Heilung beginnen.

Dazu gehört die Heilung des Traumas, das von ausbeuterischen Systemen wie Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus verursacht wurde. Diese Heilung umfasst auch, eine Wiedergutmachung für die Opfer von Sklaverei und Kolonialismus zu fordern. Und sie erfordert den Aufbau von regenerativen Systemen, die die Rechte der Natur schützen und den intrinsischen Wert und die Unantastbarkeit allen Lebens respektieren.

Während wir langsam heilen, können wir von einer reaktiven zu einer reagierenden Haltung gelangen und überlegen, was sonst noch alles möglich wäre. Wie könnte es aussehen und sich anfühlen, wenn wir ein Ethos des Gedeihens statt des nackten Überlebens annehmen würden? Wenn wir das Ausmaß der heutigen Krisen und die Wahrscheinlichkeit für einen Kollaps der modernen Zivilisation akzeptieren, eröffnet uns dies neue Möglichkeiten, uns eine schönere Welt vorzustellen.

Was ist die schönstmögliche lebendige Welt, die sich unsere fürsorglichen Herzen vorstellen können? Die vorherrschenden Schilderungen in den Massenmedien konzentrieren sich auf die Anpassung an postapokalyptische Realitäten, wie man sie in Filmen wie Mad Max oder Snowpiercer sehen kann. Alternativ dazu bieten Gattungen der spekulativen Fiktion wie Afrofuturismus, indigener Futurismus und Solarpunk positive Visionen von nachhaltigen Zukunftsszenarien auf der Grundlage kultureller Grundannahmen, Werten und Traditionen von Minderheiten.

Natürlich sind diese Visionen nicht allein durch unsere Vorstellungskraft begrenzt, sondern auch durch aktuelle Realitäten, Möglichkeiten und Chancen für Veränderung. Es existieren zwar viele Erfolgsmethoden und Lösungen, um die Welt zu schaffen, die wir uns wünschen, doch es ist schwierig, die Einschränkungen und Bedingungen zu bestimmen, die strategischem und wirkungsvollem Handeln förderlich sind. Der Bereich der Übergangsgestaltung bietet integrative Möglichkeiten, um die Visionen mit Prozessen zur Gestaltung nachhaltiger Gesellschaften zusammenzuführen. Übergangsdiskurse zu den Themen Post-Development, Ökosozialismus, sozialer Anarchismus, Postwachstum, Commons, Übergangsstädte und Ökodörfer beschreiben einige der Möglichkeiten, nachhaltige soziale Systeme zu gestalten.

Es gibt für jeden Einzelnen von uns zahlreiche Möglichkeiten, zum Großen Übergang beizutragen. Die gute Nachricht ist, dass wir nicht die Ersten sind, die so denken. Viele im Aktivismus tätige Menschen, Lehrende, Völker, Kulturen und Traditionen haben uns bereits in der Vergangenheit in die richtige Beziehung miteinander und mit der Welt zurückgerufen. Es ist unsere Aufgabe, die Puzzleteilchen zusammenzufügen und Koalitionen zu schaffen, in denen die einzigartigen Fertigkeiten und Kapazitäten jedes Einzelnen sinnvoll genutzt werden. Niemand von uns hat alle Antworten, aber wir können uns in unserem Lernprozess gegenseitig unterstützen, Verbindungen schaffen und Fähigkeiten aufbauen – sowohl für den Großen Übergang als auch für den Großen Zusammenbruch. Auf diese Weise treten wir beiden Realitäten mit unseren stärksten Fähigkeiten entgegen, während wir zugleich die besten Eigenschaften des Großen Übergangs unterstützen.

Für den neuen Online-Kurs zum Thema EcoJustice: Securing Our Future von Zack Walsh and Brooke Lavelle kann man sich jetzt anmelden. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit zwischen dem Projekt Denkweisen und Geisteshaltungen für das Anthropozän am IASS Potsdam, und der Courage of Care Coalition.

Dieser Artikel erschien zuerst am 11. August 2019 auf der openDemocracy-Website.

 

 

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